Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
Vom Netzwerk:
nicht nach, oder?«
    »Ein Millimeter Niederschlag« – Nicole tippte zweimal aufs Steuer – »bedeutet ein Liter pro Quadratmeter Bodenfläche. In Füssen im Allgäu fielen mal 126 Millimeter in acht Minuten. Das war 1920.«
    »Wow«, rief er. »Da war’s naß.« Er konnte sich erinnern, wie die Henkel einmal über den Hof des Präsidiums gerufen hatte: »Nicki, wie wird denn übernächsten Mittwoch das Wetter?« Und Nicole hatte ausgesehen, als erwäge sie ernsthaft, diese Frage zu beantworten.
    »Heute abend kriegen wir Wind«, sagte sie, bevor ihr Gesicht sich plötzlich veränderte, dunkler wurde und eckiger und vor ihm zu altern begann, als hätte man eine schöne Mumie der heißen Sonne ausgesetzt. Nicole zerfiel zu Staub.
    Was ist das, Robbi? Er wußte nicht, ob es am Licht lag oder ob er plötzlich nicht mehr richtig sehen konnte. Nicole? Was ist mit dir? Er schloß die Augen und preßte sich die Fingernägel ins Fleisch, um einen anderen Schmerz zu spüren, einen, den er begreifen konnte, und Robin fing an zu kichern und schrie, guck doch hin, Mann, guck sie dir an, wie alt und häßlich sie ist, guck sie dir an.

[ 10 ]
    Kissel starrte auf das Haus, in dem Oliver Thiele wohnte. Dreißig Stockwerke mochte es haben; legte man den Kopf zurück, schwankte es einem entgegen wie ein betrunkener Riese. »Ich fahr aber nicht Aufzug«, sagte er.
    Ina ließ einen Finger über den Klingelschildern kreisen, bis sie ihn fand, O. Thiele. »Hast du diese Dings, diese, na –«
    »Ein bißchen«, murmelte Kissel. »Im Flieger und im Aufzug und in der U-Bahn manchmal auch.«
    »Dann ist es aber mehr als ein bißchen. Wie heißt das gleich? Ich hab’s auf der Zunge.«
    »Klaustrophobie.« Kissel seufzte laut. »Als Kind bin ich mal im Aufzug steckengeblieben und hab alles vollgeschifft. Dafür bekam ich Schläge.«
    »Ah so.« Ina tippte gegen eines der Schilder. »Bist erlöst, müßte Erdgeschoß sein.«
    »Auch doof«, sagte er, »im Hochhaus unten zu wohnen.«
    »Und wenn’s jetzt der dreißigste Stock wäre?« fragte sie.
    »Würd ich laufen.«
    »Du spinnst doch.«
    »Sicher.« Er nickte. »Sag ich ja.«
    Niemand öffnete. Sie klingelten, warteten und klingelten erneut. Kissel lehnte sich gegen die Hauswand und sagte: »Noch einen Moment.« Niemand kam heraus, niemand ging hinein. Sie warteten fünf Minuten lang, bis sie drinnen eine Tür schlagen hörten.
    »Erdgeschoß«, murmelte Ina. Eng an die Wand gedrückt erwartete sie eine Oma mit Einkaufstasche – nein, eine ältere Dame, die gleich zwischen ihnen stehen und »huch« rufen würde. Doch es war ein Mann, der furchtbar erschrak, als er sie sah.
    »Herr Thiele?« fragte Kissel.
    Ein schicker Kerl, ölig schick, mit schwarzem Anzug, weißem T-Shirt und straff zurückgekämmtem Haar, als sei er unterwegs zum Ball der einsamen Herzen. Ina sah einen silbernen Ohrstecker blitzen, bevor er einen Luftsprung machte und Kissel zur Seite stieß, bevor er zu fliegen begann wie von einer Himmelsmacht gepackt. Doch kam er nicht weit, denn seine Flügel schrammten alles, was im Wege war, zwei Frauen und ein Kind, das mit den Ärmchen fuchtelte, bevor es ihm vor die Füße fiel. Ina faßte es an den Schultern und riß es zurück, den Blick auf den Mann gerichtet, der wild zu zucken begann, als Kissel ihn zu Boden warf und brüllte: »POLIZEI.«
    Daß es immer so laut zugehen mußte. Doch manchmal, wenn etwas außer Kontrolle geriet, sprang Panik einen an wie ein wütender Hund. Jetzt schrie auch das Kind. Ina spürte einen stechenden Schmerz, als es in ihren Handrücken biß; Milchzähne noch und schon so scharf, so klein das Gör und schon so giftig. Sie ließ los und sprang über die kurzen Beine, während eine Frau – die Mutter? – ihr etwas hinterherbrüllte, das wie »WIR SIND DOCH HIER NICHT –« klang.
    »HÄNDE AUF DEN RÜCKEN«, schrie Kissel, als der Mann sich wieder aufzurichten begann. Halb auf den Knien trat er nach hinten aus wie ein tückischer Gaul und traf Kissel zwischen den Beinen. Kissel stöhnte auf und taumelte zurück, während der Mann immer größer wurde, obwohl er noch kniete. Ina zog ihre Waffe, als seine Hand an seinem Jackett zu fummeln begann, rief: »Raus, Raus, LAß DIE HAND AUS DER TASCHE.« Der hatte irre Augen, nein? War der auf irgendeinem Trip?
    »SIE SOLLEN DIE HÄNDE RUHIG HALTEN.« Hatte sie ihn eben geduzt? Durfte man nicht. Sie zielte auf seinen Arm und dann auf die Beine – wohin, verdammt noch mal? Auf die Beine, immer

Weitere Kostenlose Bücher