Stevens, Chevy
normalerweise lagen wir
dann im Bett, sein Kopf auf meiner Brust.
Eines
Abends löste das Gewicht seines Kopfes ein Gefühl aus, als würde ich stillen,
und ich verlor mich in einem Tagtraum von dem Baby. Ohne nachzudenken, sang
ich leise: »Hush little baby, don't you cry.« Ich verstummte, sobald ich
begriff, was ich getan hatte. Er schob den Kopf höher, so dass er auf der
Schulter ruhte, und sah mir in die Augen.
»Meine
Mutter hat mir das Lied immer vorgesungen. Hat deine Mutter es dir auch
vorgesungen, Annie?«
»Nicht
dass ich wüsste.«
Fieberhaft
überlegte ich, wie ich die Unterhaltung am Laufen halten konnte. Ich wollte
mehr über ihn erfahren, aber ich konnte schlecht mit der Tür ins Haus fallen
und fragen: »Wie bist du eigentlich zum Psychopathen geworden?«
»Deine Mom
muss ein interessanter Mensch gewesen sein«, sagte ich und hoffte, nicht auf
eine Mine getreten zu sein, aber er sagte nichts. »Möchtest du, dass ich etwas
Bestimmtes für dich singe? Ich kenne nicht viele Lieder, aber ich könnte es
versuchen. Als Kind habe ich Gesangsunterricht bekommen.«
»Jetzt
nicht. Ich will mehr über deine Kindheit hören.«
Mist.
Konnte ich ihn dazu bringen, mir aufschlussreiche Details zu erzählen, indem
ich über mich redete?
»Mom war
nicht der Typ, der einem Schlaflieder vorsang«, sagte ich.
»Und dieser
Unterricht, war das deine Idee?«
»Nein,
Moms.«
Meine
gesamte Kindheit über habe ich ständig etwas Neues ausprobiert, ich hatte
Unterricht in Gesang, am Klavier und im Eiskunstlaufen. Daisy hatte von klein
auf Eiskunstlauf gemacht, aber ich hielt nicht lange durch. Ich habe mehr Zeit
auf meinem Hintern gelegen, als dass ich durch die Luft geflogen wäre. Mom
schickte mich zum Ballett, aber damit war Schluss, als ich in ein anderes
Mädchen hineintanzte und ihm beinahe die Nase brach.
Selbst
durch den Unfall ließ meine Mom sich nicht aufhalten. Im Gegenteil, der Tod
ihres Lieblings schien ihren Ehrgeiz noch anzustacheln, irgendetwas aus mir zu machen. Eines allerdings hatte ich mit der Zeit richtig gut
drauf: Sabotage. Erstaunlich, auf wie vielen Wegen man Instrumente kaputtbekam
oder paillettenbesetzte Kostüme ruinieren konnte.
»Was für
Unterricht hättest du gerne genommen?«
»Kunst
hatte ich ganz gerne, Malen und Zeichnen und so, aber das mochte Mom nicht.«
»Und weil
es ihr nicht gefiel, durfte es dir auch nicht gefallen?« Er hob die
Augenbrauen. »Klingt, als sei sie weder besonders fair noch fröhlich gewesen.«
»Als wir
jünger waren, bevor Daisy starb, konnte sie fröhlich sein. Jedes Jahr zu
Weihnachten haben wir ein riesiges Pfefferkuchenhaus gebacken, und sie hat die
ganze Zeit mit uns Verkleiden gespielt. Manchmal hat sie mit Daisy und mir
mitten im Wohnzimmer Höhlen gebaut, und dann sind wir lange aufgeblieben und
haben Gruselfilme angeschaut.«
»Mochtest du die
Gruselfilme?«
»Ich fand
es toll, mit Daisy und ihr zusammen zu sein ... Sie hatten einfach nur eine
andere Art von Humor. Mom stand total auf dumme Streiche. Einmal hat sie zu
Halloween überall auf dem Boden vor meinem Bett Ketchup ausgekippt, und als
ich hineintrat, dachte ich, es sei Blut. Sie und Daisy haben noch tagelang
darüber gelacht.« Ketchup hasse ich immer noch.
»Aber du
fandest es nicht witzig, oder?«
Ich zuckte
die Achseln. Der Psycho sah aus, als würde er sich langweilen, und verlagerte
sein Gewicht, als wollte er sich hinsetzen. Mist. Wenn ich an ihn herankommen
wollte, musste ich ihm ein paar echte Gefühle zeigen.
»Ich habe
geweint. Mom erzählt immer noch gerne allen Leuten, wie sie mich damals auf den
Arm genommen hat. So etwas verschafft ihr einen Kick, andere hereinzulegen. An
Halloween ist sie sogar mit uns verkleidet durch die Straßen gezogen.«
»Interessant.
Und warum, glaubst du, gefällt es deiner Mutter, Leute >hereinzulegen<,
wie du es nennst?«
»Keine
Ahnung, aber sie ist verdammt gut darin. So kommt sie auch meistens zu ihren
Kosmetika und ihrer Kleidung - sie kann jede Verkäuferin der Stadt um den Finger
wickeln.«
Nur wenige
Wochen mit diesem billigen Parfüm hatten ausgereicht, damit Mom sich auf die
Jagd nach einer dummen Nuss in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses machte.
Die Verkäuferinnen verpassten der hübschen trauernden Witwe nicht nur eine
Verschönerungskur, sondern drückten ihr auch noch massenweise kostenlose Proben
in die Hand, besonders wenn Mom jeder Frau, die zufällig vorbeikam, von den
Produkten vorschwärmte.
Das
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