Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
einem Tränenschwall auf.
»Nein!« sagte Lamartine. »Sie werden mich für Jahre ins Gefängnis stecken.«
»Dann bleib hier! Laß diesen Lecoq!«
»Hier werden sie mich hinrichten – für einen Mord, den ich nicht begangen habe. Schwarck und Lecoq sind mächtiger als ich.
Sie können einen Menschen derart verstricken, daß es keinen Ausweg mehr für ihn gibt. Ich habe das in Frankreich erlebt ...«
»Et jibt doch eene Jerechtigkeit. Et jibt fill Beschiß, det weeß ick. Aber et jibt auch Jerechtigkeit. Jerade jetzt, wo det
Land neu jeworden is ... janz Deutschland und so.«
»Es gibt keine Gerechtigkeit. Es gibt nur Intrigen und Fallen. Die Menschen sind schlecht. Geh schnell nach Hause und vergiß
mich! Ich bringe dir kein Glück.«
»Doch. Gerade eben haste mir glücklich jemacht.«
»Wenn du morgen wieder auf der Straße stehst und frierst, wirst du dich nicht mehr daran erinnern.«
Mia ging müde zur Tür. »Ick dachte, du bist irjendwie ... wat Besondres!«
Lamartine lachte bitter. »Was Besonderes?«
»Ja. Als ick dir sah, wußte ick: Dieser Mann, der is keen Tier. Dat is ’n feiner Mensch. Ick kenn außer dir keene feinen Menschen.
Ick kenn nur solche wie die da unten!«
»Hast du vergessen, was eben passiert ist ... warum ich in dieses Zimmer gekommen bin?«
»Du warst sauer, weil de mir hier offjestöbert hast!«
»Mia, ich mag nicht, wenn du so gnädig bist! Ich werde dieses Dossier hinaus zur Kutsche bringen. Es enthält Beweise, die
Stieber entlasten. Sie werden das Dossier irgendwo verstecken und Stieber in das tiefste Loch dieser Stadt werfen.«
Mia schaute ihn lange an, dann schien sie zu verstehen. Sie ging wortlos hinaus.
Lamartine war allein. Er ließ sich auf das zerwühlte Bett sinken. Das Bettzeug roch nach Parfüm und Schweiß. Lamartine brachte
nur ein trockenes Schluchzen hervor. Er rollte sich zusammen,plötzlich war auch ihm kalt. Er drückte sein Gesicht in die Tagesdecke – trotz des Geruches. Sein Mund war weit offen, er
stopfte sich den Stoff hinein, als wollte er sich erstikken. Als ihn eine Hand an der Schulter berührte, fuhr er hoch.
»Dieses Dossier – dahinter sind se doch alle her?« fragte Mia leise.
»Es enthält über Jahre gesammeltes Material, das viele Berliner Juristen und Politiker belastet.«
»Warum schnappen wir ’s uns nich? Dann könnte dir keener mehr.«
»Wie stellst du dir das vor? Zwei Zimmer weiter hält sich der preußische Justizminister auf, draußen wartet der Oberstaatsanwalt
darauf, daß Simons das Haus verläßt ...«
»Heißt det, dat de Polzei nich rinkommt, solange der Justizminister hier Jast ist?«
»Ja.«
»Dann bleibt uns doch noch Zeit!«
Auf dem Flur waren Stimmen zu hören, zwei Frauen flüsterten miteinander. Kurz darauf trat die Baronin mit einer flachen Stahlkassette
ein. »Mein Gast ruft nach mir. Ich werde ihn noch eine Weile beschäftigen, aber sehr lange hält der Gute es nicht aus. Nutzen
Sie die Gelegenheit, mit dem Dossier aus dem Haus zu schlüpfen! Ich habe schon vor Tagen mit Simons über Stieber gesprochen.
Der Justizminister ist mir gegenüber ... arglos – wenn Sie verstehen. Die beiden wollen Stieber opfern, um nach außen als diejenigen dazustehen, die entschlossen
gegen die Unsauberkeit in der Justiz vorgehen.«
»Was haben Simons und Schwarck gegen Stieber in der Hand?« fragte Lamartine.
»Ich glaube, herzlich wenig. Einen Gauner namens Luger, der auf Aufforderung hin davon faselt, daß Stieber ihn mit einer Reitpeitsche
verhört hat. Das ist Schwarcks großer Trumpf, den er verschlossen hält wie eine Jungfrau. Er will vor Gericht damit überraschen.«
»Stieber ist kein Dummkopf!« sagte Lamartine.
»Gegen die rabulistischen Kniffe eines Schwarck wird er nicht viel ausrichten können. Demnächst soll in allen Zeitungen der
Stadt eine Notiz erscheinen – ein ›Allgemeiner Aufruf‹. Jedermann, der etwas gegen den inhaftierten Kriminaldirektor vorzubringen
hat, soll sich bei der Berliner Justiz melden. Was glauben Sie, was passieren wird?«
»Alle Ganoven, die Stieber jemals vor sich hatte, werden sich melden und ihre Beschwerden loswerden wollen. Aus diesem Gespinst
kann sich kein Mensch mehr lösen!«
»Simons sagt, er hat Schwarck befohlen, mit dem Aufruf zu warten, bis sie Stiebers Dossier in den Händen haben – er will sicher
sein, daß Stieber nicht zurückschlägt. Vor dem Dossier haben die beiden eine Heidenangst! Ich hätte
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