Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Lamartine verstand nicht, was der Kommentator damit meinte: Sein Land
war ausgeblutet und hatte – wie der beabsichtigte Prozeß gegen ihn zeigte – alle Hände voll mit sich selbst zu tun.
»Der deutsche Bund«, schrieb der Kommentator, »war defensiver Natur. Preußen wirkte in diesem eher lebensunfähigen Verein
wie die Hefe, die den Teig in Gärung versetzt. Der Teig ist nun genügend aufgegangen, es wird Zeit, daß man sich um die Nachbarn
kümmert, die diesem natürlichen und gesunden Vorgang mißbilligend zugeschaut haben.«
Lamartine gefiel dieser Stil. Pariser Zeitungen formulierten zurückhaltender und verstellten dabei oft genug den Sinn des
Gesagten – aus Kunstwille, aber auch aus Angst. In Berlin war das anders, hier wurde Tacheles geredet, und niemand schien
etwas dabei zu finden, sich als stärkstes Land in Europa seiner Kraft zu rühmen und den Feinden offen zu drohen. »WirPreußen waren und sind nicht beliebt unter den Deutschen«, schrieb der Kommentator weiter. »So wie in Zeiten des Friedens,
besonders aber nach einem Krieg der, der zur Umsicht aufruft, gerne als Störenfried abgetan wird. Die Hauptfrage aber lautet:
Was tut Preußen, was tut das neue Deutschland, um sich selbst vor der Mißgunst seiner Nachbarn zu schützen? Es gibt Stimmen,
die meinen, es sei eine schlimme Hypothek des neuen Staates, daß er nicht in der Heimat, sondern in Feindesland, im Prunkschloß
des Nachbarn eben, besiegelt worden ist – und dann auch noch auf Kosten des unfreiwilligen Gastgebers. Das aber ist die vertrackte
Logik der Geschichte: Vieles, was auf direktem Wege nicht oder nur sehr schwer zu haben ist, ergibt sich über einen von außen
aufgezwungenen Umweg so natürlich wie von wissender, ja göttlicher Hand gelenkt. Das noch nicht geeinte Land mußte sich sozusagen
noch im embryonalen Zustand seiner Haut gegen den mächtigen Angreifer erwehren, der ihm alle zukünftigen Rechte absprach,
noch bevor er das Licht der Welt erblickt hatte. Dieser widrige Umstand hat die Geburt des Reiches erschwert – aber ohne ihn
wäre sie höchstwahrscheinlich gar nicht vonstatten gegangen.«
Lamartine ließ die Zeitung sinken. Simons stand mit dem Rücken zu ihm in der Mitte des Foyers. Er hatte seine Rechte wie unbeabsichtigt
auf den Rücken der Baronin gelegt. Sie wanderte hinunter zu ihrem Gesäß und begann – nur von Lamartine beobachtet – sich dort
zu schaffen zu machen. Die Baronin versuchte, sich – sobald sie zu spüren schien, was vorging – zu entwinden, aber der kräftige
Simons drückte sie fest an sich. Lamartine schaute schnell wieder in die Zeitung, der Anblick des ungleichen Kampfes deprimierte
ihn noch mehr ...
»Die Geschichte erwartete von Preußen und von Deutschland, daß sie sich hinaus ins Feld begaben, um das unfertige Haus zu
schützen. Das ist eine Tatsache, und über eine Tatsache sollte man nicht lamentieren. Klüger und gesünder ist es, darüber
nachzudenken, wie man denjenigen zuvorkommenkann, die sich durch die Geburt des neuen Staates verprellt fühlen und ihre Scharte auswetzen wollen.«
Lamartine konnte es nicht fassen: Nicht nur, daß Frankreich nun als Verursacher des deutschen Angriffes dastand, man machte
sein Heimatland auch im voraus schon für den nächsten Krieg verantwortlich. Was Lamartine am wenigsten verstand, war, daß
niemand in Deutschland ein schlechtes Gewissen hatte: Dem besiegten Frankreich gegenüber gab es weder Mitleid noch Nachsicht.
Wenn der Gegner geschlagen war, dann trat man in Berlin auch gleich nach. Daß seine Heimat bereits zerstört war, schien die
Deutschen nicht zu scheren. Lamartine spürte, wie in ihm die Wut wuchs. Diese Wut erfüllte Lamartine wieder mit Kraft.
Er las den letzten Absatz. »So gilt es denn, unvoreingenommen und geduldig alles Nötige zu veranlassen, was die zarte Blüte
unseres mit viel Blut erkauften Staates beschützt. Bismarck, der neue Reichskanzler, geht in die richtige Richtung. Einen
Waffengang wollen wir – derzeit – nicht, weil wir ihn uns selbst nicht zumuten können. Also muß mit den Mitteln der Diplomatie
die Not überbrückt werden, bis wir wieder bereit sind, unser Leben mit dem Schwert in der Hand zu verteidigen.«
Um Gottes willen: Welche Not, welcher Feind bedroht das Leben Deutschlands?
»Unsere Wirtschaft, unsere Industrie wächst unaufhörlich, wir müssen ihr die Zeit geben, die sie braucht, um ebenso guten
Stahl für Lokomotiven und
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