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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Lamartine verstand nicht, was der Kommentator damit meinte: Sein Land
     war ausgeblutet und hatte – wie der beabsichtigte Prozeß gegen ihn zeigte – alle Hände voll mit sich selbst zu tun.
    »Der deutsche Bund«, schrieb der Kommentator, »war defensiver Natur. Preußen wirkte in diesem eher lebensunfähigen Verein
     wie die Hefe, die den Teig in Gärung versetzt. Der Teig ist nun genügend aufgegangen, es wird Zeit, daß man sich um die Nachbarn
     kümmert, die diesem natürlichen und gesunden Vorgang mißbilligend zugeschaut haben.«
    Lamartine gefiel dieser Stil. Pariser Zeitungen formulierten zurückhaltender und verstellten dabei oft genug den Sinn des
     Gesagten – aus Kunstwille, aber auch aus Angst. In Berlin war das anders, hier wurde Tacheles geredet, und niemand schien
     etwas dabei zu finden, sich als stärkstes Land in Europa seiner Kraft zu rühmen und den Feinden offen zu drohen. »WirPreußen waren und sind nicht beliebt unter den Deutschen«, schrieb der Kommentator weiter. »So wie in Zeiten des Friedens,
     besonders aber nach einem Krieg der, der zur Umsicht aufruft, gerne als Störenfried abgetan wird. Die Hauptfrage aber lautet:
     Was tut Preußen, was tut das neue Deutschland, um sich selbst vor der Mißgunst seiner Nachbarn zu schützen? Es gibt Stimmen,
     die meinen, es sei eine schlimme Hypothek des neuen Staates, daß er nicht in der Heimat, sondern in Feindesland, im Prunkschloß
     des Nachbarn eben, besiegelt worden ist – und dann auch noch auf Kosten des unfreiwilligen Gastgebers. Das aber ist die vertrackte
     Logik der Geschichte: Vieles, was auf direktem Wege nicht oder nur sehr schwer zu haben ist, ergibt sich über einen von außen
     aufgezwungenen Umweg so natürlich wie von wissender, ja göttlicher Hand gelenkt. Das noch nicht geeinte Land mußte sich sozusagen
     noch im embryonalen Zustand seiner Haut gegen den mächtigen Angreifer erwehren, der ihm alle zukünftigen Rechte absprach,
     noch bevor er das Licht der Welt erblickt hatte. Dieser widrige Umstand hat die Geburt des Reiches erschwert – aber ohne ihn
     wäre sie höchstwahrscheinlich gar nicht vonstatten gegangen.«
    Lamartine ließ die Zeitung sinken. Simons stand mit dem Rücken zu ihm in der Mitte des Foyers. Er hatte seine Rechte wie unbeabsichtigt
     auf den Rücken der Baronin gelegt. Sie wanderte hinunter zu ihrem Gesäß und begann – nur von Lamartine beobachtet – sich dort
     zu schaffen zu machen. Die Baronin versuchte, sich – sobald sie zu spüren schien, was vorging – zu entwinden, aber der kräftige
     Simons drückte sie fest an sich. Lamartine schaute schnell wieder in die Zeitung, der Anblick des ungleichen Kampfes deprimierte
     ihn noch mehr   ...
    »Die Geschichte erwartete von Preußen und von Deutschland, daß sie sich hinaus ins Feld begaben, um das unfertige Haus zu
     schützen. Das ist eine Tatsache, und über eine Tatsache sollte man nicht lamentieren. Klüger und gesünder ist es, darüber
     nachzudenken, wie man denjenigen zuvorkommenkann, die sich durch die Geburt des neuen Staates verprellt fühlen und ihre Scharte auswetzen wollen.«
    Lamartine konnte es nicht fassen: Nicht nur, daß Frankreich nun als Verursacher des deutschen Angriffes dastand, man machte
     sein Heimatland auch im voraus schon für den nächsten Krieg verantwortlich. Was Lamartine am wenigsten verstand, war, daß
     niemand in Deutschland ein schlechtes Gewissen hatte: Dem besiegten Frankreich gegenüber gab es weder Mitleid noch Nachsicht.
     Wenn der Gegner geschlagen war, dann trat man in Berlin auch gleich nach. Daß seine Heimat bereits zerstört war, schien die
     Deutschen nicht zu scheren. Lamartine spürte, wie in ihm die Wut wuchs. Diese Wut erfüllte Lamartine wieder mit Kraft.
    Er las den letzten Absatz. »So gilt es denn, unvoreingenommen und geduldig alles Nötige zu veranlassen, was die zarte Blüte
     unseres mit viel Blut erkauften Staates beschützt. Bismarck, der neue Reichskanzler, geht in die richtige Richtung. Einen
     Waffengang wollen wir – derzeit – nicht, weil wir ihn uns selbst nicht zumuten können. Also muß mit den Mitteln der Diplomatie
     die Not überbrückt werden, bis wir wieder bereit sind, unser Leben mit dem Schwert in der Hand zu verteidigen.«
    Um Gottes willen: Welche Not, welcher Feind bedroht das Leben Deutschlands?
    »Unsere Wirtschaft, unsere Industrie wächst unaufhörlich, wir müssen ihr die Zeit geben, die sie braucht, um ebenso guten
     Stahl für Lokomotiven und

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