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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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ja selbst längst etwas
     unternommen – aber ich wußte nicht, an wen ich mich wenden sollte. Zudem hat Stieber mir ausdrücklich aufgetragen, das Dossier
     nicht eigenmächtig aus der Hand zu geben.«
    Draußen wurde eine Tür aufgerissen, eine Männerstimme rief nach der Baronin. Sie übergab Lamartine die Kassette und eilte
     hinaus. Gleichzeitig streckte die Empfangsdame den Kopf herein. »Mia, was ist mit dir? Unten warten Gäste!«
    Mia sah Lamartine an. »Und – soll ick ’s vasuchen? Die warten doch drauf, daß du aus’m Haus kommst. Mit ’ner Frau rechnen
     die nich. Die wissen doch nischt, daß ick hier anschaffe   ... Und wenn ich’s jeschickt anstelle, erkennt mich nischt mal dein Landsmann.«
    Lamartine konnte sich nicht entscheiden. Mia entriß ihm die Kassette. Sie küßte Lamartine auf den Mund, zog ihren Mantel über
     und versteckte die Kassette an ihrem Körper. Dann verließ sie schnell das Zimmer.
    »Und was ist mit den Gästen?« fragte die Empfangsdame. Lamartine zuckte mit den Achseln und ging ebenfalls an ihr vorbei nach
     unten.
    Im Foyer fand er – abgesehen davon, daß einige Damen und Herren die Plätze gewechselt hatten – die Gesellschaft unverändert
     vor. Lamartine ließ sich ein Glas Sekt geben und nahmin einem etwas abseits stehenden Sessel Platz, von dem aus er ungestört alles weitere beobachten konnte.
    Lamartine wunderte sich darüber, daß die Gäste den Eindruck machten, eher wegen der Unterhaltung mit den Damen gekommen zu
     sein als wegen der Vergnügungen im Obergeschoß. Lamartine mußte sich eingestehen, daß er die Berliner in dieser Hinsicht kultivierter
     fand als seine Landsleute. Eigentlich, dachte er bitter, wäre ich ein guter Berliner geworden.
    Das Auftauchen des Justizministers Simons auf der Treppe erinnerte ihn wieder daran, daß er nicht die Wahl hatte, ein Berliner
     zu werden oder ein Pariser zu bleiben. Längst waren ihm alle Entscheidungen aus der Hand genommen worden. Selbst seine Vernunft
     war stumpf geworden. Sie schwieg schamhaft wie ein Musterschüler, den der Lehrer beim Pfuschen erwischt hatte.
    Simons war ein großer, untersetzter Mann mit stark gerötetem Gesicht, er hatte volles, schlohweißes Haar. Der Justizminister
     gab sich keine Mühe, seine Anwesenheit im Haus der Baronin vor den anderen Gästen zu verbergen. So selbstverständlich, als
     sei er der Hausherr, stolzierte er von Paar zu Paar und begrüßte die Herren mit Handschlag, die Damen mit einem Handkuß. Als
     die Baronin – zu Lamartines Verwunderung neu toupiert und in einem schwarzen Abendkleid – dazukam, setzte Simons seine Promenade
     sogar mit ihr am Arm fort.
    Lamartine befiel eine Müdigkeit, die ihn unempfindlich machte gegen seine Misere. Er wußte, daß die Zeit stillstand, solange
     Simons Hof hielt. Erst wenn der Justizminister das Haus verlassen hatte, würden Schwarck und Lecoq ihn holen. Er dachte an
     Mia. Da er sie im Foyer nicht entdeckte, nahm Lamartine an, daß sie mit Stiebers Kassette schon außer Haus war. Wenn es ihr
     gelang, an Schwarck und Lecoq vorbeizukommen, würde sie das Dossier verstecken und auf ihn warten. Er aber saß hier fest –
     und wie er Schwarck und Lecoq einschätzte, würden sie ihn dafür bestrafen, daß ihnen das Dossier entgangen war. Seine Situation
     hatte sich nicht verändert.
    Lamartines Augenlider wurden schwer. Am liebsten wäre er in einen tiefen Schlaf gefallen, ein Schlaf, der alles das, was ihm
     in den letzten Tagen widerfahren war, aus dem Gehirn wusch. Er setzte sich abrupt auf – er wollte nicht, daß Lecoq ihn schlummernd
     im Foyer vorfand, wenn er mit Schwarck hereinstürmte. Er griff nach einer Zeitung, die zusammengefaltet auf dem kleinen Tischchen
     neben dem Sessel lag. Es war eine Berliner Zeitung – die, die er schon kannte. Sie war zerlesen.
    Auf der ersten Seite war viel vom deutschen Kaiser die Rede. Die Deutschen interessierten sich für alles, was ihn betraf.
     Es war, als hätte das Volk bis vor kurzem in einem Zustand entsetzlicher Anarchie gelebt und sei nun durch göttliche Fügung
     unter die Herrschaft eines weisen Regenten geraten. Lamartine blätterte schnell weiter.
    Ein Kommentar auf der zweiten Seite erläuterte Bismarcks neue Politik gegenüber Frankreich. Es hieß, obwohl die Regierung
     Thiers brav die Reparationen an Deutschland zahlte, könne der unvoreingenommene Beobachter zahlreiche Anzeichen dafür ausmachen,
     daß Frankreich sich auf eine Revanche vorbereitete.

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