Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Lamartine fühlte sich erbärmlich. Er setzte sich aufs Bett. Es dauerte eine Weile, bis er sie berühren
konnte. Er legte seine Hand auf die zuckende Schulter. »Warum weinst du?« fragte er.
Ihr Kopf schoß hoch. Die Augen hatten rote Ränder, die Nase glänzte von den Tränen. »Du?«
»Ja, ich bin hier!«
»Oh, Gott!« Mia setzte sich auf und zog die Knie an, sie deckte sich zu. Noch immer schien sie zu frieren. Sie starrte auf
den Sessel mit ihren Kleidern. Lamartine stieß mit den Fußspitzen den Gürtel unters Bett. Er schämte sich. Irgendwann sagte
er leise: »Ich habe noch niemals eine Nutte erlebt, die weint, wenn ihr Freier ins Zimmer kommt.«
»Wat willste hier?«
»Ich habe versucht, meine Haut zu retten.«
»Hast du jesagt, ick soll nackt warten?«
»Ja.«
»Du bist ’n Schwein.«
»Ich ertrage es nicht, wenn du auf den Strich gehst!«
»Woher soll det Jeld kommen?«
»Welches Geld?«
»Det für meene Mutter und meenen Bruder ...«
»Hör endlich auf, mir zu erzählen, er sei dein Bruder!«
»Ick kann se doch nich ohne wat zurücklassen. Und für de Fahrkarten nach Paris.«
»Die Fahrkarten nach Paris?«
»Sollen wir zu Fuß nach Frankreich jehen?«
Lamartine seufzte. »Mia, es ist aus!«
»Wat?«
»Alles. Lecoq wartet draußen in einer Karosse – zusammen mit dem Oberstaatsanwalt. Sie warten darauf, hier hereinzustürmen
und den Laden auszuheben. Stieber sitzt im Gefängnis. Und mir wollen die Herren einen Mord anhängen. Ich kann überhaupt froh
sein, wenn sie mich an Frankreich ausliefern, anstatt mir hier den Prozeß zu machen.«
»Ausliefern? Wat soll’n dette?«
»In Paris wollen sie mich vor Gericht stellen. Wegen Hochverrats.«
Es wurde an die Tür geklopft. Mia zog die Decke bis zum Kinn. Die Empfangsdame trat ein. Ihr folgte eine kleinere, etwa dreißig
Jahre alte, zierliche, rothaarige Frau in einem schwarzen Morgenmantel. Die Rothaarige hatte ein feingeschnittenes Gesicht,
das nicht geschminkt war. Sie schob die sie um einen Kopf überragende Empfangsdame beiseite und trat zu dem Bett hin.
»Mach, daß du rauskommst!« fuhr sie Mia an.
Mia erhob sich, ohne die Decke loszulassen. Lamartine hielt ihren Arm fest. »Sie bleibt hier!«
»Was fällt Ihnen ein?« fuhr die Rothaarige Lamartine an. »Ich bin die Baronin von Thun!«
Lamartine erhob sich und deutete eine knappe Verbeugung an. »Mein Name ist Lamartine. Ich bin französischer Polizeibeamter.
Mia ist meine Frau!«
»Oh!« rief die Baronin aus und schaute ihre Empfangsdame ratlos an. »Das hatten wir hier noch nicht, nicht wahr, Luise?« Dann
wandte sie sich freundlicher an Mia. »Natürlich kannst du bleiben. Falls du dich anziehen willst, gehen wir hinaus.«
Mia, der schon wieder die Tränen über die Wangen liefen,schüttelte den Kopf. Sie schien verwirrt zu sein, stieg aber aus dem Bett, ging zum Sessel und begann, sich anzuziehen. Die
anderen schauten diskret weg – auch Lamartine.
»Hat Ihnen Herr Stieber dieses Tuch ausgehändigt?« fragte die Baronin und wedelte Lamartine mit dem Taschentuch vor der Nase
herum.
»Ja.«
»Sie wissen, was das bedeutet?«
»Er erwartet von Ihnen, daß Sie mir das Dossier übergeben.«
»Ich werde es holen. Es ist so gut versteckt, daß kein Mensch es finden würde. Darf ich erfahren, was mit dem Dossier passieren
wird?«
»Stieber möchte damit seine Freilassung erzwingen.«
Das genügte der Baronin. Sie verließ mit wehendem Mantel das Boudoir. Lamartine sah, daß sie darunter nackt war – und er beneidete
den Justizminister Simons.
Mia war fertig mit Anziehen. »Warum sagste, dat ick deine Frau bin?« fragte sie Lamartine.
»Weil du es bist.«
Mia trocknete mit dem Ärmel des Kleides ihre Wangen. Dann wandte sie sich an die Empfangsdame, die mit verschränkten Armen
dastand und die beiden beobachtete: »Haben Se jehört, Luise? Ick bin seine Frau! Haben Se so wat schon ma erlebt?«
»Nein! Herzlichen Glückwunsch!« Auch sie verließ eilig das Zimmer.
»Ick bin glücklich, Lamartine«, sagte Mia. »Weeßte, dat ick noch nie in meinem Leben glücklich war?« Sie schniefte. Lamartine
ging zu ihr und küßte sie. Sie drückte ihre heiße Wange an sein Gesicht.
Er machte sich los. »Ich werde dieses Dossier zu dem Oberstaatsanwalt hinausbringen. Er will Stieber den Prozeß machen. Dann
wird Lecoq mit mir nach Frankreich zurückkehren. Es hat nicht gereicht, Mia. Ich bin der Verlierer.«
»Ick komm mit!« schrie Mia unter
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