Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
»Angesichts dieser Entdeckung gab mir der König jetzt
keinen geringeren Auftrag, als die Spuren jener umstürzlerischen Vereinigung an Ort und Stelle zu verfolgen, und ich begab
mich unverzüglich mit dem Paß eines Zeitungsredakteurs Schmidt als Privatmann nach London, vorgeblich zum Besuche der dortigen
›Großen Industrie-Ausstellung‹.«
Die Situation zur Mitte des Jahrhunderts war brisant. Im Zuge der überall auftretenden revolutionären Unruhen hatte sich am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche eine Nationalversammlung konstituiert. Das Parlament aus Bildungsbürgern und Beamten sollte
die Einheit in Deutschland herstellen und eine Verfassung verabschieden. Es war allerdings, da es über keine wirkliche exekutive
Macht verfügte, hilflos gegen die ihre Pfründe rigoros verteidigenden Partialfürsten. Der Preuße Friedrich Wilhelm – schon
arg gebeutelt durch die Unruhen um das Berliner Schloß – reagierte besonders hart. Er schickte Militär ins Parlament, das
die preußische Nationalversammlung kurzerhand auseinanderjagte. Dann diktierte er seinem Land eine eigene Verfassung, das
das Dreiklassenwahlrecht festschrieb. Wenn es um die brutale Niederschlagung von liberalen und nationalen Aufständen ging,
verbündete er sich sogar mit seinem Erzfeind Österreich.
So zerschlugen die europäischen Monarchien, die zwei Jahre zuvor noch am Ende zu sein schienen, gemeinsam die demokratische
Opposition. Der preußische König bewies bei diesem
rollback
durchaus die Weitsicht eines modernen Strategen: Selbst ein Wirrkopf, der von London aus einen Geheimbund mit utopischen Vorstellungen
führte, konnte ihm irgendwann einmal gefährlich werden. Deshalb schickte er jetzt schon seinen besten Mann los, um die Sache
im Keim zu ersticken.
Entsprechend militant klang Stiebers Einschätzung des Marxschen Kommunistenbundes: »Ihre Ziele waren gewaltsamer Sturz und
Enteignung der Bourgeoisie, Aufhebung der bisherigen auf Klassengegensätzen beruhenden Ordnung mit der Begründung einer neuen
menschlichen Gesellschaft ohne solche. Ihr fanatisch verkündeter Leitsatzlautete: ›Die Zeit ist reif für die gewaltsame Besserung unserer verderbten Welt!‹«
Stieber ging mit der üblichen Sorgfalt und Logik vor. Er verfertigte Dossiers über die Anführer der Verschwörung, die den
Agenten über Arbeitsweise, Lebenslauf und Intimitäten der Zielpersonen ins Bild setzten. Der preußische Beamte war im Mai 1851 – ohne Computer und fast im Alleingang – logistisch längst auf dem Stand seiner Kollegen im 20.Jahrhundert. Eine später aufgrund
des sechswöchigen Aufenthaltes in London angelegte Karteikarte wies folgende Eintragung auf: »Marx, Karl: Der aus Deutschland
Ausgewiesene entstammt einer Trierer jüdischen Familie, studierte in Berlin und Bonn Philosophie und hatte sich an der Bonner
Universität um einen Lehrauftrag bemüht, welcher ihm jedoch wegen seiner jüdischen Herkunft verweigert wurde. Marx wurde daraufhin
Redakteur der ›Rheinischen Zeitung‹ zu Köln, und als solcher wegen staatsbeleidigender Hetzartikel 1849 ausgewiesen. Er floh
nach Paris, wurde indessen auch von dort ausgewiesen wegen Anstiftung zum Aufruhr und flüchtete sich nach London, von wo er
in der Folge mit falschem Paß immer wieder nach Paris zurückkehrte. Marx hat eine schöne, vielumschwärmte Ehefrau aus einem
alten westfälischen Grafengeschlecht und drei Töchter mit ihr, außerdem einen am 23. Juni 1851 zu London geborenen, außerehelichen Sohn namens Henry Demuth, von ihm gezeugt mit Helene Demuth, der Dienstmagd
seiner Familie.«
So oder so ähnlich hätte auch die Akte des Karl Marx ausgesehen, wenn das Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit es
für nötig befunden hätte, ihn zu observieren. Natürlich blieben auch die Londoner Mitverschwörer nicht von der sicherheitsdienstlichen
Erfassung verschont: »Engels, Friedrich: Ist der Sohn eines Fabrikanten aus dem Wuppertal, flüchtet in die Schweiz, nachdem
er in Basel an einem Gefecht teilgenommen hat, das sich dort Sozialisten mit der Polizei lieferten, fand sodann Anstellung
in England in einem Handelshause bei Geschäftsfreunden seines Vaters in Manchester. Der erste Eindruck, den der Besucher von
Engels erhält, fasziniert: Er ist groß, breitschultrig, blondhaarig und von überaus gewinnendem Wesen, dazu passionierter
Reiter, Schwimmer und Jäger. Er schrieb ein Buch mit dem Titel: ›Die Ausbeutung
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