Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
der arbeitenden Klassen‹.«
Sobald Stieber 1851 in London angekommen war, ging er mit der gewohnten Kaltschnäuzigkeit zu Werke. Er ließ sich bei Karl Marx alsRedakteur Schmidt anmelden und gab vor, einen jungen deutschen Kollegen, der ebenfalls Mitglied des kommunistischen Bundes
sei, ausfindig machen zu wollen, um ihm Grüße der besorgten Eltern in Deutschland zu überbringen. Erstaunlicherweise empfing
ihn Marx – obwohl die Londoner Leitung des europaweit aktiven Kommunisten-Bundes mit geheimdienstlichen Aktionen der Feinde
vom Festland zu rechnen hatte. Selbst derart erfahrene Aufrührer wie Karl Marx waren damals noch arglos gegenüber raffinierten,
psychologischen Spitzeltechniken.
In seinen Memoiren gibt Stieber das Gespräch mit Marx wieder. Es treffen in diesem Jahr 1851 zwei Welten aufeinander. Der
kosmopolitische, offensichtlich großherzige, aber bis zur Blauäugigkeit gutgläubige Revolutionär und Wissenschaftler Karl
Marx auf der einen Seite: Trotz seiner wegweisenden politischen Theorien ein Mensch des noch idealistisch geprägten 19. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite der provinzielle, aber blitzgescheite und absolut skrupellose Berliner Spitzel Stieber,
der Macht-Mensch des 20. Jahrhunderts, ein von allen Ideologien und Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Staatsraison unbelasteter Pragmatiker. Fast
könnte man über den Spitzbubenstreich Stiebers und über Marxens Naivität lachen – wenn nicht aufgrund der Begegnung der beiden
Männer Hunderte in Gefängnisse geworfen und etliche hingerichtet worden wären.
Stieber stellt sich Marx als Redakteur einer medizinischen Publikation vor, und Marx erbittet von dem vermeintlichen Fachmann
Rat gegen die Hämorrhoiden, die den fanatischen Leser so sehr quälen, daß er nur noch am Stehpult arbeiten kann. Auf dem Umweg
über den Leibarzt von Marx, einen gewissen Dietz, bringt Stieber auf abenteuerliche Weise die Registratur des Bundes an sich.
Bei dieser Registratur handelt es sich nicht etwa um eine Handvoll vollmundiger Programmerklärungen oder geheimniskrämerischer
Umsturzprotokolle. Die Londoner Registratur eines »Weltbundes der Kommunisten« war eine Art Zentralcomputer der internationalen
Organisation. Dietz verwaltete also eine Aktei, in der alle Mitglieder des Bundes, Anlaufstellen, konspirative Treffs usw.
aufgeführt wurden. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die Namen von Hunderten von Menschen in ganz Europa, die,
wenn sie enttarnt werden würden, damit rechnen mußten, in ihren Heimatländern wegen Hochverrats vor Gericht gestellt zu werden.
Die Auswertung der Registratur ergab, daß der Bund bereits seit 1847 bestand und maßgeblich zu den revolutionären Ereignissen
des Jahres 1848 beigetragen hatte. Stieber konnte zuschlagen: »In Köln, Berlin, Braunschweig, Hannover, Hamburg, Frankfurt
am Main, Leipzig, Stuttgart. Aber auch in Brüssel, Verviers, Lüttich, Paris, Lyon, Marseille, Genf, St. Gallen, Chaux de Fonds,
Locle, Bern, Dijon, Lausanne, Straßburg, Valenciennes, Metz, Basel, Algier, New York, Philadelphia nannten die von mir erlisteten
Dokumente geheime Stützpunkte.«
Nach diesem geheimdienstlichen Erfolg wurde Wilhelm Stieber zu einer Art Reisender in Sachen Kommunistenbund. Die Restauration
benötigte seine Dienste. Ein Jahr wie 1848 sollte es in ganz Europa nicht mehr geben. Die Monarchen und Partialherrscher wollten
mit eisernem Besen kehren. Und der gerissene Stieber sollte ihnen zeigen, wo sie zu kehren hatten.
Da sich sein Londoner Handstreich auch in den oppositionellen Kreisen der Hauptstädte schnell herumsprach und die Umstürzler
jetzt Bescheid wußten über seine Mission, ließ eine Reaktion der Revolutionäre nicht lange auf sich warten. Bei seinem nächsten
Parisaufenthalt, der dazu dienen sollte, den dortigen Polizeipräfekten für einen großen Schlag gegen die politisch aktiven
Emigrantengruppen der französischen Hauptstadt zu gewinnen, sprach ein gewisser Cherval in Stiebers Hotel vor. Der Lithograph
erkundigte sich erst höflich nach der Identität des Deutschen, gab sich dann als Mitglied des Kommunistenbundes zu erkennen
und zog plötzlich einen langen Dolch.
Stieber gelang es, den Attentäter mit einem Stuhl zu Boden zu schlagen und zu binden.
Obwohl eben noch sein Leben bedroht war, nutzte Stieber die Situation kaltblütig für seine Zwecke aus: »Noch in derselben
Stunde wurde der gefesselte Cherval, welcher aus
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