Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
der Untersuchungshaft unter ungeklärten Umständen – und Stieber war wieder der Günstling des Hofes.
Der König übertrug ihm immer persönlichere Aufträge. So verwaltete der Polizeidirektor Wilhelm Stieber eineinhalb Jahre lang
die Krollschen Gaststätten im Berliner Tiergarten. Das Grundstück gehörte dem Regenten, was dieser geheimhielt, denn die an
die Familie Kroll verpachteten Gaststätten waren hoch verschuldet und standen vor der Pfändung. So wurden, um Aufsehen zu
vermeiden, die Gaststätten von den Krollschen Gläubigern betrieben und ein Vertrauensmann des Königs als Verwalter des Besitzes
bestellt: eben Wilhelm Stieber, der nun vom Agent zum Wirt geworden war.
Auf der Dresdner Konferenz zur Reform des Bundestages wurde ein Ausschuß eingesetzt, der die Vorgänge in liberalen Staaten
wie Baden kritisch zu beobachten hatte. Die Reaktion hatte wieder Boden zurückgewonnen. Gleichzeitig begann in Deutschland
mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein technologischer und wirtschaftlicher Aufschwung: Aktiengesellschaften bauten die Eisen- und Maschinenindustrie
und den Bergbau aus. Justus von Liebig entwickelte die künstliche Düngung und steigerte so die Erträge in der Landwirtschaft.
Unter den deutschen Staaten profitierte Preußen am meisten vom Wirtschaftsaufschwung, Stiebers Heimatstadt Berlin wurde zu
einer Wirtschafts- und Geldmetropole.
5. Die geheime Leidenschaft: Großstadtkriminalität
Die Gefahr eines Umsturzes war vorerst gebannt. Wilhelm Stieber machte sich dennoch Sorgen. Es ging ihm um die Moral der Großstadtbevölkerung.
Als Charlotte von Hagen, Tragödin am Berliner Königlichen Schauspielhaus, ihn um Hilfe in ihrem Scheidungsprozeß gegen ihren
Gemahl Herr von Oven bat, willigte der Wirt des Königs ein, obwohl Ehestreitigkeiten nicht gerade in seinem Arbeitsbereich
als Polizeidirektor lagen. Stieber: »Ich hoffte nämlich, damit dem sittenlosen Treiben der höheren Gesellschaftskreise Berlins
auf die Spur zu kommen, welches damals so sehr über die Grenzen des Erlaubten hinausging, daß ich als Direktor der Berliner
Polizei nicht länger tatenlos zusehen konnte.«
Der Spion bewegte sich mal wieder auf unsicherem Terrain: Die Schlafzimmer der Mächtigen waren für einen Ermittler gefährlicher
als die Hinterzimmer kommunistischer Verschwörer. Dennoch – er hatte auch hier Erfolg. Stieber: »Ich konnte bald ermitteln,
daß Herr von Oven viel bei einer Frau von T. verkehrte, deren Adel angeheiratet war und in deren reich ausgestatteter Wohnung
allabendlich ganz junge Mädchen sich einfanden und in der Regel erst tief in der Nacht wieder entfernten.«
Stieber ließ kurzerhand das Haus umstellen und klingelte dann höchstselbst am Portal des Bordells. Zwei Honoratioren sollen
– folgt man Stiebers zwar züchtigen, aber auch recht reißerischen Schilderungen – nackt aus dem Fenster gesprungen sein. Stieber
beruhigte die in flagranti ertappten Berliner Würdenträger mit der Versicherung, sie nicht vor Gericht zu bringen, wenn sie
sich legitimierten. Frau von T. hingegen – in den besseren Kreisen auch einfach Tilly genannt – wurde auf der Stelle verhaftet
und ins Präsidium gebracht, nachdem sie sich angekleidet hatte. Stieber wußte, was sich gehörte: »Daß die Namen der Beteiligten
nicht an die Öffentlichkeit gelangten, dafür trug ich Sorge, wohl aber veranlaßte ich die sofortige Veröffentlichung und weiteste
Verbreitung meines Einschreitens in allen Zeitungen, damit ein heilsamer Schrecken verbreitet werde. Ich ahnte damals noch
nicht, daß mein Vorgehen gegen das gastfreundliche Haus der Frau von T.nicht nur meiner verehrten Auftraggeberin Charlotte
von Hagen zu einer sofortigen Scheidung verhalf, sondern auch ein Wegweiser für mein weiteres Wirken war.«
Bei Stieber mischen sich nun verschiedene Motive auf eigentümliche Weise. Die Prostitution wird zu einer Art Besessenheit
– sicher auch, weil der preußische Spion von der Jagd auf Umstürzler bis auf weiteres suspendiert ist. Wenn Stieber von seinem
neuen Arbeitsgebiet spricht, so dringen oft puritanische Töne durch: Für den Bürgerssohn aus gutem protestantischem Elternhaus
war käufliche Liebe vorerst noch eine Sünde, die zuallererst den Frauen anzulasten war, die ihre Körper den bessergestellten
Herren aus der Berliner Oberschicht anboten. Dann aber, erst unmerklich, weil derartige Gedanken damals auch als durchaus
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