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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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     drinnen zu suchen?!« schrie sie ihn mit quäkender Stimme an. Er stieß sie weg und lief die Treppe hinunter.
    »Kommen jetzt die feinen Herrschaften schon zu uns armen Leuten scheißen?!« schrie die Alte hinter ihm her. »Sind eure Toiletten
     verstopft von den vielen guten Sachen, die ihr in euch hineinfreßt, während wir hungern?«
    Lamartine hörte, daß in den Fluren Türen geöffnet wurden. Schon war er draußen und sah noch, wie das Fuhrwerk aus dem Durchgang
     in die Passage des Patriarches einbog. Das Gelächter der Knechte war länger zu hören als die Fahrgeräusche des Fuhrwerkes.
    Er überlegte, ob er zu Fuß die Verfolgung aufnehmen sollte. Dann kam ihm jedoch der Gedanke, daß er das Geschöpf aus seinem
     Gefängnis retten könnte, falls es den Sturz in das Kellerloch überlebt haben sollte. Lamartine lief in den Hof zurück. Aus
     dem vergitterten Loch fiel immer noch Licht nach oben.
    Der Inspektor verlangsamte seine Schritte – weil er nicht bemerkt werden wollte, falls sich Kumpane der Fuhrwerksknechte im
     Keller befanden, aber auch, weil er sich vor dem Anblick des mit gebrochenen Beinen im Keller liegenden gestreiften Wesens
     fürchtete. Er blieb stehen und horchte. Nichts war zu hören. Dann trat er mutig in den Lichtschein, bückte sich und schaute
     durch das Gitter in die Tiefe.
    Lamartine stockte der Atem. Nur einen Meter von ihm entfernt war der Kopf des Geschöpfes. Seine schwermütigen schwarzen Augen
     starrten ihn an. Im Hals des Wesens steckte ein S-förmiger Metzgerhaken, der mit einer Kette am Gitter festgemacht war. Der
     Kopf drehte sich, die rosafarbene Zunge schien aus dem Maul herauszufallen.
    Er griff zwischen den Gitterstäben hindurch nach der Kette, sprang auf und zog. Das Geschöpf drehte sich langsam. Es wog ein
     ungeheures Gewicht – aber der Büromensch Lamartine sah in die großen, schwarzen Augen, und er schaffte es. Er zog die Kette
     so weit an, daß er den Metzgerhaken mit der freien Hand vom Gitter losmachen konnte. Dann ließ er die Kette los. Sie rasselte
     blitzschnell durch das Gitter, das Geschöpf fiel in die Tiefe, schlug auf den Kellerboden auf und rollte zur Seite.
    Der Bauch klaffte vom Hals bis zu den hinteren Oberschenkeln auf. Lamartine sah ein weißliches Gerippe. Der Bauch war völlig
     leer, ausgenommen. Nur noch die gestreifte Hülle des Wesens war übrig. Lamartine warf sich auf die Gitterstäbe und drückte
     sein Gesicht gegen das Eisen. Dann sah er es: Die Eingeweide, frische, dampfende, blutrote und schwarze Fleischbrocken hingen
     an der Wand des Kellers, fein säuberlich nach Größe und Form an Haken aufgereiht.
     
    Weil er das für sieben Uhr angesetzte Abendessen verpaßt hatte, sprach zu Hause niemand ein Wort mit Lamartine. Die Schwiegermutter
     hatte für teures Geld bei einem Bauern aus Buc bei Versailles eine Handvoll Kartoffeln und einen Schweinemagen erstanden.
     Den Magen hatte sie stundenlang weich gekocht und dann in Sojasoße eingelegt, die Kartoffeln waren – zusammen mit dem marinierten
     Fleisch – in Schmalz gebraten. Die Schwiegermutter war im Gegensatz zu Jeanne eine hervorragende Köchin, die auch aus einfachen
     Zutaten ein gutes Mahl zubereiten konnte. Ein kleiner Rest des Essens stand auf dem Tisch, ein Zettel lehnte am Teller: »Nur
     JeannesGutmütigkeit hast du es zu verdanken, daß wir dir einen Rest Essen aufgehoben haben. Mutter.«
    Lamartine wurde wütend: Immerhin lebte die ganze Familie von seinem Geld. Er beugte sich über das kalte Essen, nahm Messer
     und Gabel, um das Stück zerknitterten Magen klein zu schneiden – da fiel ihm das Wesen wieder ein, er sah die ausgenommene
     Bauchhöhle, den Brustkorb und die tiefschwarzen Augen, in denen noch Leben war.
    Lamartine schob den Teller weg und setzte sich in die Ecke, um die Zeitung zu lesen.
     
    Er begann mit einem Artikel über die Proteste in den niederen Volksschichten der Stadt. Die Leute, die sich bisher aus allem
     herausgehalten hatten, äußerten neuerdings ihren Unwillen über den Waffenstillstand, den die neue Regierung unter Adolphe
     Thiers mit den Deutschen abgeschlossen hatte. Der Korrespondent schrieb, die Stadt stehe kurz vor einer Revolte. Auffällig
     oft war in dem Artikel von einer Kommune die Rede. Es handelte sich dabei – wie Lamartine an den Namen einiger Beteiligten
     feststellte – um Arbeiter und Kleinbürger. Auch ein paar Zeitungsschreiber und Literaten waren darunter, vor allem Neojakobiner,
    

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