Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
lebendigen Leibes verbrannt waren, weil sie durch die Treppenhäuser der Mietskasernen,
die wie heißgebrannte Schlote die giftigen Dämpfe hochbliesen, nicht mehr ins Freie gelangt waren, glaubte er manchmal, den
Geruch dieser armen Teufel wahrzunehmen. Lamartine schüttelte sich.
Es dämmerte. Die wenigen Menschen, die noch auf der Straße waren, beeilten sich, nach Hause zu kommen. Lamartine sah überall
mürrische und graue Gesichter, die Blicke der Passanten waren gesenkt. Auf der Straße, auf der die Stimmen früher oft den
Lärm der Fuhrwerke übertönten, war es still.
Lamartine ging ein paar Schritte, er schlug einen Bogen um den Block, um von hinten an das Restaurant »Le canard« heranzukommen.
Die Straßen wurden schmaler, das Pflaster war an vielen Stellen aufgerissen und nicht mehr erneuert worden, auch schienen
Anwohner nach etwas gebuddelt zu haben.
Lamartine mußte sich vorsehen; in der Passage des Patriarches, die auf die Rue Mouffetard stieß, gab es keine Straßenlampen,
und die Schlaglöcher waren so tief, daß man sich bei einem Sturz ernsthaft verletzen konnte. Als Lamartine etwa in der Mitte
der Gasse war und schon umkehren wollte, weil er keinen Zugang zu den Grundstücken finden konnte, die an der Rue Mouffetard
lagen, polterte ein Fuhrwerk um die Ecke. Es fuhr für die Straßen- und Sichtverhältnisse ungewöhnlich schnell, Lamartine hatte
den Eindruck, daß der Wagen auf der Flucht war. Aus Angst, auf der unbeleuchteten Straße niedergefahren zu werden, sprang
er von der Straßenmitte auf das schmale Trottoir, das dicht an den Mietskasernen vorbeiführte. Doch der Wagen verlangsamte
plötzlich seine Fahrt, der Kutscher ließ die Bremsen quietschen und lenkte die beiden Gäule in eine Einfahrt. Lamartine konnte
sich ausrechnen, daß das Portal auf der Höhe des Restaurants lag.
Er lief los. Schon nach wenigen Schritten schlug er sich an einem aus dem Pflaster gerissenen Stein die Zehen an. Er mußte
einen Moment stehenbleiben. Lamartine war ein schlechter Läufer. Er saß seit Jahren in Büros. Er wurde schnell kurzatmig,
bei geringen Anstrengungen trat ihm Schweiß auf die Stirn, und es wurde ihm übel. Er erreichte das Portal, durch das das Fuhrwerk
verschwunden war, als ein Fuhrknecht gerade die Flügeltüre zustieß, deren Kanten schon so abgewetzt waren, daß das Holz weißlich
hervortrat.
Als der Knecht Lamartine erblickte, hielt er die schwere Türe auf, grüßte höflich und ließ ihn ein. Er mußte den Polizisten
für den Mieter einer der über dem Portal liegenden Wohnungen halten. Lamartine verhielt sich danach, bedankte sich knapp,
aber ohne Herablassung und betrat den Aufgang. Er bemühte sich, auf der Treppe Lärm zu machen, damit der Knecht, der im Durchgang
lauerte, sich sicher sein konnte, daß der Bewohner verschwunden war. Lamartine stieg schwer atmend drei Treppen hoch, dann
wartete er und ging leise wieder nach unten. Im ersten Zwischenstock tastete er in der Dunkelheit nach einem Fenster zum Hof,
das er hätte öffnen können. Er fand aber nur eine unverschlossene Tür. Lamartine öffnete sie und schlüpfte hindurch.
Sofort wurde es ihm speiübel. In dem Kabuff stank es bestialisch. Es handelte sich um eine Außentoilette, die vor wenigen
Minuten erst benutzt worden war. Lamartine hielt sich mit einer Hand die Nase zu, mit der anderen Hand griff er in die Mauernische,
wo er den Eisenknauf des Toilettenfensters zu fassen bekam. Als sich der Knauf nicht drehen ließ, riß Lamartine das Fensterchen
aus dem Schloß heraus. Dann streckte er seinen Kopf in die Nische, um frische Luft einzuatmen.
Er hörte die Gäule schnauben und jemanden am Fuhrwerk hantieren, aber er konnte in der Dunkelheit des von Brandmauern umschlossenen
Hinterhofes nichts erkennen. Erst als seine Augen sich an die Sichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er Umrisse: Die Männer
hatten den Wagen an einem vergitterten Kellerloch abgestellt, die Gitter waren hochgeklappt, aus dem Keller drang ein schwacher
Lichtschein. Auf der Ladefläche stand eine Kiste, die Wagenklappe war entfernt worden und wurde nun als Rampe benutzt.
Die beiden Knechte hielten lange Stöcke in den Händen. Einer von ihnen sprang auf den Wagen und hämmerte, dann klappte das
hintere Seitenteil der Kiste auf. Der andere stieß mit seinem Stock mehrmals in die Kiste hinein. Bis hinauf in die Mauernische
konnte Lamartine hören, daß sich in derKiste etwas bewegte,
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