Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Proudhonisten und Blanquisten, was Lamartine aus den Berichten seiner Kollegen von der Politischen Polizei wußte. Diese Kommune
rief offen zum Bau von Barrikaden auf, sie stellte sich gegen die Regierung, sie wollte soziale Reformen, ja einen völlig
neuen Staat. Der Ministerpräsident Adolphe Thiers denke daran, in den nächsten Tagen die Nationalgarde entwaffnen zu lassen,
was – nach der Ansicht des Korrespondenten – die Bevölkerung als eine Kriegserklärung mißverstehen könnte.
Lamartine schlug die ›Liberté‹ zu. Zwar wußte er, daß die Unzufriedenheit mit der neuen Regierung unter den einfachen Leuten
wuchs und daß man Thiers offen vorwarf, die Sache der Clique um Napoleon weiterzuführen und das Großbürgertum und den Adel
zu unterstützen, während demRest der Bevölkerung ebenso wenig Einfluß eingeräumt wurde wie unter den Aristokraten. Aber die Menschen in Paris schimpften
immer auf ihre jeweilige Regierung, und Lamartine hatte nirgendwo Menschenmengen gesehen oder gewalttätigen Pöbel – von Barrikaden
ganz zu schweigen.
Auch aus einem anderen Grund konnte Lamartine an diesem Abend mit den Neuigkeiten aus seiner Zeitung wenig anfangen: Das soeben
Erlebte wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
Die Schwiegermutter durchquerte das halbdunkle Zimmer und räumte den Teller weg. »Du mußt doch was essen, mein Sohn!« bettelte
sie. Als sie das Zimmer verlassen hatte, hörte Lamartine im Flur aufgeregtes Flüstern: Ihr Gatte wartete auf das Essen, das
der Schwiegersohn verschmäht hatte.
Lamartine ging ins eheliche Schlafzimmer hinüber. Zuerst dachte er, Jeanne schlafe schon, dann hörte er sie aber leise schluchzen.
Er zog sich aus und legte sich neben sie. Er wartete, bis sie regelmäßiger atmete, dann fragte er: »Hast du schon einmal ein
Wesen gesehen, das wie ein Pferd aussieht, nur kleiner und stämmiger ist, einen sehr großen Kopf hat und am ganzen Körper
schwarzweiß gestreift ist?«
Jeanne fuhr im Bett hoch, ihr Kopf flog herum, mit rot verheulten Augen sah sie Lamartine an. »Wir darben hier und teilen
uns einen Schweinemagen – und du ... du vertrinkst das Geld!« Lamartine drehte sich weg und blies die Kerze aus, die neben seinem Bett brannte.
Nachts träumte er von dem schwarzweiß gestreiften Wesen. Es verfolgte ihn über einen morastigen Acker, in dem er immer tiefer
versank, während das Wesen mit den Streifen und den gelblichen Hufen über den Morast galoppierte wie über das Hippodrom von
Chantilly und dabei die Nüstern bedrohlich aufblies. Kurz bevor das Wesen ihn erreichte, versank Lamartine völlig im Morast.
Er drohte zu ersticken und erwachte.Als Lamartine am Morgen ins Büro ging, waren ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen. Einige trugen schwarze Waffenröcke
mit Silberknöpfen in Doppelreihen. Auf der Brücke Pont Notre-Dame, die er immer nahm, um auf die Île de la Cité zu gelangen,
traf er Gustave Bara, einen Kollegen, der von der Kriminalpolizei zur Politischen Polizei gewechselt war und nun jede Nacht
Streife laufen mußte.
An der Vendôme-Säule hätten sie Stricke um das Standbild Napoleon I. geworfen und machten Anstalten, es umzustürzen, teilte
Bara seinem Kollegen aufgeregt mit. Als Lamartine weniger beeindruckt zu sein schien, als Bara das erhofft hatte, warnte der
ihn: In der Rue d’Allemagne sei am Morgen die erste Barrikade entstanden, es würde nicht mehr lange dauern, bis der Pöbel
sich an den Staatsbeamten vergriff.
Lamartine dankte Bara, der als Aufschneider galt, für die Warnung und setzte seinen Weg zum Justizpalast über den Quai de
la Corse fort. Er nahm die Sache nicht sehr ernst. In den letzten Wochen und Monaten hatte man sich in Paris an Menschenaufläufe
gewöhnt. Auch die Barrikaden bedeuteten noch lange nicht, daß die Stadt am Rande einer Revolte stand. Die Menschen waren durch
die Belagerung und die Niederlage verbittert, niemand konnte von ihnen erwarten, daß sie ihrer Regierung zujubelten. Die Massen
mußten ihre Wut an irgend etwas auslassen – der Barrikadenbau schadete noch am wenigsten, fand Lamartine.
Im Büro erwartete ihn Danquart mit einem Schreiben, das er in der Nacht aufgesetzt hatte. In diesem Schreiben teilte er dem
Untersuchungsrichter mit, daß die Beweise gegen die Kindsmörderin Léontine Suétens so erdrückend wären, daß eine Mordanklage
bestritten werden konnte. Es fehlte nur noch die Unterschrift Lamartines. Der Inspektor las das
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