Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Fastenkur: Nach einer gewissen Zeit kam Klarheit in mein Hirn. Was vorher nur nebulös vorhanden war, trat deutlich hervor.
Seit dieser Zeit fühle ich mich stärker, ich verstehe vieles besser – obwohl die Wirren in Frankreich momentan auch mein Begriffsvermögen
übersteigen. Aber dieser Satz gefällt mir: Das Wohl der Allgemeinheit ist das Maß aller Dinge. Das Wohl meines Volkes muß
ganz oben stehen. Nicht das Wohl des Kaisers, nicht das Wohl der neuen Regierung, auch nicht das Wohl der Kommune, nein, das
Wohl des ganzen Volkes. Das ist die Allgemeinheit.«
»Nein!«
»Nein?«
»Sie haben mich falsch verstanden, Monsieur Lamartine. Aber dieses Mißverständnis ist nicht Ihnen persönlich anzulasten, es
handelt sich um das übliche Mißverständnis zwischen Deutschen und Franzosen. Wo wir über die Pflicht zur Unterwerfung reden,
hört ihr immer bloß Revolution und Sozialismus.«
»Davon war keine Rede. Ich sprach von der Wohlfahrt des Volkes – des ganzen Volkes, damit war nicht die Hegemonie der größten
Klasse gemeint, sondern das Wohlergehen aller Franzosen.«
»Und das eben ist unser Mißverständnis. Wir Preußen haben eine viel religiösere Vorstellung von der Allgemeinheit als ihr
Franzosen. Ihr habt da irgendein demokratisches Paradies im Kopf, in dem alle – vom Bäuerlein bis zum Grafen – zusammen an
einer großen Tafel sitzen, die sie sich auch noch selbst gedeckt haben. Wir sind Asketen, lieber Lamartine. Wir verachten
die Wohlfahrt nicht, aber sie ist nicht unser höchstesGut. Das höchste Gut ist der Staat – und der Staat ist mehr als die Summe seiner Untertanen. Der Staat – das ist eine Idee.
Die letzte Instanz, der alle zu dienen haben, vom Tagelöhner bis zum Kanzler. Und wenn es im Interesse des Staates ist, so
ist es richtig, gegen das Volk mit Kanonen vorzugehen. Das Volk kann sich irren – im Grunde irrt es sich ständig. Der Staat
irrt sich nie. Ja, es ist sogar so: Gerade weil sich das Volk so oft irrt, gibt es den Staat. Der Staat ist das Regulativ.
Der Staat bringt Ordnung in das Chaos der Geschichte ...«
»Und wer ... wer ist dieser Staat – etwa die Polizei?«
»Um Gottes willen! Die Polizei hat nichts zu sein als ein gehorsamer Arm des Staates.«
»Wir sollen uns also von den Politikern führen lassen?«
»Vom Staat. Nicht jeder Politiker handelt im Interesse des Staates. Die Propagandisten der Kommunistischen Internationale
in London sind auch Politiker – zumindest einige unter ihnen. Aber kein vernünftiger Mensch würde behaupten, daß sie das Wohl
des Staates im Auge haben ...«
»Sie reden so, als würden Sie die Herren persönlich kennen, Monsieur Stieber.«
»Tu ich auch!«
»Jetzt machen Sie sich aber über mich lustig. Ich bin zwar bloß ein einfacher Kriminalpolizist, aber ...«
»So hören Sie doch meine Geschichte!«
Lamartine wollte etwas einwerfen, aber sein Gast fuhr mit lauter Stimme fort: »Es war 1845. Am 24. Februar empfing ich ein Schreiben des Geheimen Oberregierungsrates Mathies. Mathies saß im Ministerium des Innern. Er bat
mich, ihn am folgenden Tag aufzusuchen. In einer dienstlichen Angelegenheit, hieß es. Im Innenministerium kam man ohne Umschweife
zur Sache. Damals schon habe ich eines gelernt: Der selbstbewußte Staat hat es nicht nötig, seine Wege und Ziele zu vertuschen.«
»Dann habe ich es mit einem weniger selbstbewußten Staat zu tun!« warf Lamartine bitter ein.
Stieber überhörte es. »Ich erhielt von Mathies die vertrauliche Mitteilung, daß die Provinzialbehörden in Schlesien einer
Verschwörung von Bewohnern des Hirschberger Tales auf die Spur gekommen waren. Der Minister des Innern, Graf von Arnim, hatte
deshalb angeregt, mich nach Schlesien zu entsenden. Ich sollte vor Ort geheime Recherchen nach den Verschwörern und ihren
Plänen führen.«
»Aber das gehört doch sicher nicht zu den Pflichten eines Berliner Kriminalisten!«
»Richtig! Ich war Geheimagent geworden. Mit der gleichen Begeisterung des Handwerkers für das Machbare, mit der ich in Berlin
gegen kleine und große Ganoven vorgegangen war, entwickelte ich meine erste Operation gegen Oppositionelle.«
»Wenn sie gegen Gesetze verstoßen, sind es Kriminelle wie andere auch!« stimmte Lamartine zu – dachte aber im gleichen Augenblick
an Danquart und den Fall Léontine Suétens.
»Ich hatte zu keiner Sekunde Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Aktion. Obwohl – mit normaler
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