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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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lehnte sich zurück und fuhr nach einer Pause, in der er Lamartines Erstaunen auskostete, fort: »Mit dem
     Paß eines Zeitungsredakteurs Schmidt in der Tasche reiste ich als Privatmann nach London. Angeblich um die große Industrie-Ausstellung
     zu besuchen. Marx war aus Deutschland ausgewiesen worden. Er entstammte einer jüdischen Familie aus Trier, hatte in Berlin
     und Bonn Philosophie studiert und sich an der Bonner Universität um einen Lehrauftrag bemüht. Den hat man ihm wegen seiner
     jüdischen Herkunft verweigert. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß es in der Geschichte jedesUmstürzlers diesen Punkt gibt? Eine Ungerechtigkeit, manchmal auch bloß eine Dummheit der Obrigkeit, die aus dem braven Bürger
     einen Staatsfeind macht   ...«
    Lamartine dachte über Stiebers Worte nach. Der aber schien nicht auf eine Antwort warten zu wollen: »Ich ließ mich kurzerhand
     bei Karl Marx als Redakteur Schmidt anmelden. Als Grund meines Besuches gab ich an, einen jungen deutschen Kollegen, der ebenfalls
     Mitglied des Kommunistischen Bundes sei, ausfindig machen zu wollen, um ihm Grüße der besorgten Eltern zu überbringen. Erstaunlicherweise
     empfing mich dieser Marx. Ich traf auf einen untersetzten Mann mittleren Alters. Marx trug einen schäbigen Rock mit steifer
     Hemdbrust. Er sah aus wie ein Universitätsprofessor. Das einzig Auffallende an ihm war sein durchdringlicher Blick – und diese
     Haarschleife, so eine wie sie Künstler, Maler vor allem, zu tragen pflegen. Marx bedauerte, aber der von mir gesuchte Friedrich
     Herzog sei ihm nicht bekannt, er verwies mich allerdings an einen Herrn Dietz. Der führte die zentrale Registratur des Bundes.«
    Lamartine war verärgert: Warum hatte Stieber sich gerade ihn ausgesucht? War er zu gutmütig, zu nachgiebig? »Warum erzählen
     Sie mir das alles?« fragte er unvermittelt.
    Stieber sah ihn erstaunt an: »Aber wir sind doch Kollegen! Ich dachte, es interessiert Sie?«
    »Ja, das tut es auch!« entgegnete Lamartine, aber er fragte sich, wie sich Stiebers deutsche Kollegen verhielten, ob sie sein
     Renommieren satt hatten, ob seine Vorgesetzten in Berlin ihn noch ernst nahmen   ...
    Stieber fuhr fort: »Die Adresse von Dietz gab mir Marx auf der Stelle und ohne Bedenken. Ich wollte mich schon verabschieden,
     da fragte mich Marx, wie ich zur Sache des Bundes stehe. Ich versuchte auszuweichen, aber er überschüttete mich mit einer
     Art Deklaration: Überall in der Welt erbauten die Arbeiter prunkvolle Paläste, müßten jedoch selbst in den armseligsten Hütten
     darben. Sie erzeugten alle Lebensgüter undmüßten die ganze Staatsmaschinerie finanzieren, ohne daß die Herrschenden auch nur die geringste Fürsorge für sie trugen.
     Das zu ändern, sei unsere Pflicht. Ich fragte Marx, wie er sich eine solche Änderung vorstellte. Er antwortete sofort: Durch
     die Überführung aller Fabriken aus der Gewalt ihrer Besitzer in die der Arbeiter. Ich sagte, das würde einen Bürgerkrieg heraufbeschwören
     – einen Bürgerkrieg mit einem zumindest ungewissen Ausgang. Marx erklärte mir daraufhin wortwörtlich folgendes: ›Die Zeit
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für uns. Die jüngsten Nachrichten aus Deutschland, die ich erhielt, besagen, in allen Teilen des Landes sind Kommunisten am
     Werke. In Barmen ist der Polizeipräfekt selbst ein Kommunist, und in Elberfeld besuchte kürzlich die ganze Bürgerschaft unsere
     kommunistische Versammlung.‹ Lamartine, Sie müssen sich vor Augen halten: Das sagte Marx mir, dem höchsten Berliner Polizeibeamten.
     Dann überreichte er mir ein Exemplar des kommunistischen Programmes seines Bundes – in dem Glauben, einen neuen Genossen gewonnen
     zu haben. Aber es kommt noch besser   ... Marx fragte mich nämlich: ›Sind Sie Redakteur? Bei welcher Zeitung?‹ Ich antwortete, ich sei Redakteur beim Medizinischen
     Anzeiger in Berlin. Eigentlich sei ich ein verhinderter Arzt, ich hätte Medizin studiert, bis man mich wegen meiner revolutionären
     Gesinnung von der Universität verwiesen hätte. Marx fragte mich darauf, ob ich eine wirksame Arznei gegen den Hämorrhoidal-Schmerz
     kenne   ...«
    »Das meinen Sie nicht ernst, Stieber. Sie wollen mich hochnehmen!« entfuhr es Lamartine.
    »Keineswegs. Er erklärte, er leide fast unausstehlich an dieser Erkrankung, ja, sie mache ihm seit Jahren bei seinen Schreibtischarbeiten
     das Sitzen derart zur Qual, daß er nur noch im Stehen arbeiten könnte. Linderung verschaffe ihm bloß eine Patentmedizin,

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