Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
die
ihm dieser Dietz, ein ehemaliger Apotheker, zusammenbraute. Ich bat ihn noch um ein Exemplar seines letzten Werkes – mit persönlicher
Widmung. Marx war offensichtlich erfreut darüber, mal wieder mit jemandem aus derHeimat zu reden. Er kam meinem Wunsch gerne nach. Ich eilte daraufhin zu meiner Herberge zurück, einem kleinen Gasthof, in
dem man keine Legitimation verlangte. Dort schrieb ich zur Probe erst auf ein anderes Papier, dann auf das leere Blatt im
Buch über den Namenszug von Marx:›Bitte mir sogleich Arznei und Registratur bringen!‹ Das Blatt riß ich heraus und ging damit
am gleichen Abend zu Dietz. Ich stellte mich als deutscher Arzt vor ...«
»Natürlich als ein Dr. Schmidt ...«
Stieber grinste. »... den Marx angeblich wegen plötzlicher starker Schmerzen konsultiert hatte. Ich hätte ihn behandelt, und er hätte mich ersucht,
ihm seine Arznei bei Dietz zu holen. Auch bitte Marx um die vollständige Registratur, mit deren Hilfe er während seiner Krankheit
eine Arbeit vorbereiten wollte.«
Auch Lamartine schmunzelte. »Jetzt wird’s eine Räuberpistole, Monsieur Stieber. Aber es vertreibt immerhin die Zeit!«
Stieber hob den Zeigefinger. »Sie irren sich, Lamartine. Was ich Ihnen hier vertraulich berichte, ist die volle Wahrheit.
Wie viele unserer Kollegen glauben Sie wahrscheinlich, wir hätten es bei diesem Kommunistenbund mit ganz ausgekochten Umstürzlern
zu tun. Die Leute um Marx mögen etwas von politischen Theorien verstehen, von moderner Geheimdienstarbeit haben sie keine
Ahnung. Deshalb war es auch so leicht für mich. Diese Registratur – es handelte sich nicht etwa um einen Packen mit Programmerklärungen
oder mit Umsturzprotokollen. Dietz verwaltete eine Aktei, in der alle Mitglieder des Bundes, Anlaufstellen, konspirative Treffs
usw. aufgeführt wurden. Es ging um die Namen von Hunderten von Menschen, die damit rechnen mußten, in ihren Heimatländern
wegen Hochverrats vor Gericht gestellt zu werden.«
»Und dennoch soll Ihnen dieser Dietz die Registratur so einfach übergeben haben? Unfaßbar!«
»Dietz ist nicht gerade ein heller Kopf.«
»Und Marx?«
»Mag sein: ein Genie. Aber eines, das über die wahre Natur der Macht noch zu wenig weiß.«
»Sie bekamen also wirklich alle Namen der Mitglieder?«
»Der gute Dietz machte sich umgehend an die Herstellung der Arznei. Die Registratur – vier dickleibige Folianten – wollte
er aber nicht ohne weiteres aus der Hand geben. Er verpackte sie zusammen mit der fertigen Arznei in einen Seesack und machte
Anstalten, Arznei und Registratur selbst zu Marx zu bringen. Ich half ihm dabei, den Sack zu verschnüren, und begleitete ihn
zu dem Hause von Marx. Im Flur des Hauses bat ich Dietz, einen Moment zu warten. Ich behauptete, erst einmal nach oben zu
Marx gehen zu müssen, um nachzusehen, ob der Kranke überhaupt in der Lage war, Besuch zu empfangen.«
»Wenn er sich darauf einließ, war er wirklich ein Tölpel!«
»Er tat es!«
Jetzt lachten beide Polizisten lauthals. Es dauerte, bis Stieber fortfahren konnte: »Ich stieg die Treppe zur Wohnung der
Familie Marx hinauf, blieb aber oben stehen, ohne zu klingeln, und kehrte nach kurzer Zeit wieder zu dem im Erdgeschoß wartenden
Dietz zurück. Dem ehemaligen Apotheker teilte ich mit, sein Patient sei geschwächt und liege im Bett. Marx wolle niemanden
sehen, bitte ihn aber, mir das Mitgebrachte auszuhändigen. Das tat er auch – für ihn war ich ja der behandelnde Arzt. Dann
schärfte ich ihm ein, Marx mindestens drei Tage ausruhen zu lassen ...«
»Damit Sie Zeit genug für Ihre Polizeiaktion hatten. Marx kam gar nicht mehr dazu, seine Genossen zu warnen.«
Stieber fiel wieder in einen sachlichen Ton: »Die Auswertung der Registratur ergab, daß der Bund bereits seit 1847 bestand
und maßgeblich zu den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 beigetragen hatte. In Köln, Berlin, Hamburg, Frankfurt am
Main, Leipzig, aber auch in Brüssel, Paris, Marseille, Genf, Algier, New York und Philadelphia gab es geheimeStützpunkte. In Deutschland wurden alle Mitglieder des Bundes festgenommen, darunter Dr. jur. Becker, später Oberbürgermeister
zu Köln, Schriftsteller Freiligrath, Zigarrenmacher Röser ... Die Verhandlung gegen die zwölf Beschuldigten fand 1852 am Assisenhof zu Köln statt, sie dauerte volle fünf Wochen. Marx
und sein Mitverschwörer Engels versuchten noch von London aus, ihre Kameraden
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