Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
sehr konzentriert zu. Als Bouvet geendet hatte, wandte sich Stieber an Lamartine: »Wir können zufrieden sein. Besser
hätte es gar nicht laufen können.«
Lamartine erwiderte ernst: »Ich verstehe Ihre Zuversicht nicht, Monsieur Stieber. Wir wollten den Mörder von Franc finden.
Sie wollten verhindern, daß kein Franzose mehr mit Ihnen zusammenarbeitet, weil alle Angst haben müssen, vonWiderständlern ermordet zu werden. Und jetzt geben Sie sich damit zufrieden, daß wir einen Geheimbund ausgemacht haben, der
Zootiere schlachtet und sie an die Wohlhabenden der Stadt verfüttert ...«
Stieber winkte ungeduldig ab. Er sprach jetzt lauter als sonst, wirkte auch nicht mehr so besonnen und selbstsicher. »Sie,
Lamartine, denken an nichts anderes als an Ihren Mordfall. Das ist ehrenwert, aber auch – entschuldigen Sie die deutliche
Ausdrucksweise – sehr engstirnig. Sie sind eben doch ein fleißiger, kleinkarierter Polizeibeamter. Ich aber muß in größeren
Zusammenhängen denken. Sie haben ja keine Vorstellung davon, mit welchen Widerständen ich mich bei meiner Arbeit herumschlagen
muß. Sie ärgern sich über die Arroganz eines Karrieristen wie de Baule oder über die Kaltschnäuzigkeit eines Edelganoven wie
Lecoq. Lieber Lamartine, das sind – glauben Sie mir – Widerstände, über die ich nur lachen kann. Sehen Sie, vor wenigen Tagen
noch bezeichnete man mich höchsten Ortes als ›Hypochonder‹. Der neue Kaiser hält mich nicht nur für einen Wichtigtuer aus
der Entourage seines Kanzlers Bismarck – er sagt das auch noch vor den versammelten Generalstabsoffizieren und seiner politischen
Begleitung aus Berlin. Die Herrschaften, für deren Leib und Leben ich verantwortlich bin, machen sich öffentlich über mich
lustig. Ist Ihnen klar, was das heißt?«
Lamartine schwieg. Also doch, dachte er: Ich hab’s geahnt, er hat seinen Mund so voll genommen, weil ihn die eigenen Leute
nicht ernst nehmen.
Stiebers Wangen glühten. »Wenn wir von unserem Feldzug nach Berlin zurückkehren, werden sich alle feiern lassen – schließlich
haben sie nicht nur den Erbfeind bezwungen, sondern auch die zerstrittenen deutschen Staaten vereint. Wer aber steht nach
diesem Sieg als Kasper und Miesmacher da? Wen werden sie in Berlin verspotten und wieder in der Versenkung verschwinden lassen?
Mich! Und ich weiß, wovon ich rede. Ich bin schon einmal in meinem Beruf bis ganz nachoben gerückt und dann in den Kerker geworfen worden. Ein zweites Mal soll mir das nicht passieren!«
Stieber war laut geworden. Er machte eine Pause, um Atem zu schöpfen. Lamartine spürte, daß sich etwas getan hatte bei den
Deutschen – etwas, was seinen Partner völlig durcheinandergebracht hatte. »Was ist passiert?« fragte der Inspektor tonlos.
»Es ist schon soweit mit mir gekommen, daß mein Schutzherr ... daß Bismarck vor den anderen Herrschaften behauptet, ich sähe Gespenster, sobald ich auf die Gefahren hinweise, die in
Paris lauern. Der Kaiser ist trotz meiner Warnung vor wenigen Tagen allein durch den Bois de Boulogne geritten – und wurde
auch prompt vom Pöbel angegriffen. Er blieb nur unverletzt, weil er seinem Pferd die Sporen gab. Dennoch bleibt man im Hauptquartier
gelassen. Selbst die von meinen Mitarbeitern ausgemachten Initiatoren einer Verschwörung gegen die deutsche Führung wurden
verschont. Es handelt sich um die Nationalisten Palmié und Durand. Jeder Mensch in der Stadt weiß, wie gefährlich diese Leute
sind. Die spaßen nicht, wenn sie von Attentaten reden. Aber man ignoriert mich in der Umgebung des Kaisers. Man ignoriert
mich sogar, obwohl schon Dinge passiert sind, über die ich hier gar nicht sprechen will ... schreckliche Dinge, die ganz böse hätten enden können. Aber die Herrschaften, die durch meine Wachsamkeit von einer Katastrophe
verschont blieben, lachen über mich und meine Einschätzungen. So ist die Lage, Lamartine – und Sie reden unentwegt von einem
vergifteten Subjekt im Bois de Boulogne. Wachen Sie endlich auf! Wenn Sie weiter träumen, werden Sie auch irgendwann von einem
de Baule oder Lecoq nachts aus dem Bett geholt und in ein Verlies gesteckt!«
Stieber verließ grußlos das Büro des Inspektors Lamartine.
An diesem Abend machte Lamartine einen großen Bogen um jede Gaststätte.
Zu Hause fand er niemanden vor. Auf der Anrichte im Wohnzimmer stand eine rechteckige Karte, auf der in Jeannes großer geschwungener
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