Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Lehrerinnenschrift geschrieben stand: »Wir besuchen Tante Amelie. Solltest du wieder vernünftig werden, so gib uns ein Zeichen.
Wenn nicht, wird dein Kind ohne Vater zur Welt kommen. Besser so, als vor allen als Verräter dazustehen. Jeanne. PS.: Sende
uns bitte von deinem nächsten Gehalt einen Scheck, der uns die Schmach erspart, die armen Verwandten auf dem Land um Unterstützung
bitten zu müssen.«
Lamartine schlief die ganze Nacht nicht. Viel ging ihm im Kopf herum, er versuchte immer wieder, Ordnung zu schaffen – aber
es gelang ihm nicht. Der Inspektor erhob sich am Morgen müder als er sich am Abend zuvor niedergelegt hatte.
Lamartine ging nicht ins Büro.
Er trank in einem weit entfernten Bistro drei große warme Milchkaffee, um wach zu werden. Dann las er eine Zeitung, die an
der Garderobe des Bistros hing, und erschrak über die dicken, Grauen verkündenden Lettern auf den ersten drei Seiten des sowieso
nur in einem eingeschränkten Umfang erschienenen Pariser Blattes.
Die Ruhe auf den Straßen täuschte. Offensichtlich blieben die Menschen nicht – wie Lamartine angenommen hatte – aus Angst
vor den Regierungstruppen oder vor Strafaktionen der Deutschen in ihren verschlossenen Wohnungen, sondern sammelten sich in
weit entfernten Stadtteilen und bereiteten sich auf Kämpfe vor. Die Meldungen der Zeitungen klangen hart und blutig: Die Regierung
Thiers denke nicht daran, den Anarchisten die Herrschaft in Frankreichs Hauptstadt zu überlassen. Notfalls werde sie die Geschütze
auf die Aufrührer richten und auch auf die Gefahr hin, Unschuldige zu töten, mit schweren Waffen in die Barrikaden hineinschießen.
Die Kommunewiederum errichtete immer neue Barrikaden, besetzte strategisch wichtige Gebäude, verrammelte sie und karrte von den kämpfenden
Truppen an der Peripherie zurückgelassene Waffen hinein.
Lamartine wußte nun, daß es bald losgehen würde. Es würde wieder Krieg geben – diesmal aber nicht außerhalb der Stadt, an
den Befestigungen, wo kaum Menschen lebten, sondern mitten in Paris, in den Wohngebieten. Jetzt war Lamartine erleichtert
darüber, daß seine schwangere Frau sich nicht mehr in der Stadt aufhielt – auch wenn er damit rechnen mußte, daß sie nie mehr
zu ihm zurückkehrte.
Pünktlich um zwölf Uhr mittags stand Lamartine vor dem Restaurant »Le canard«. Im Osten war der Himmel pechschwarz, und es
waren Geschützdonner und einzelne Gewehrschüsse zu hören.
Lamartine betrat das »Le canard«.Der zahnlose Alte forderte ihn auf, das Lokal wieder zu verlassen, man bediene gerade keine
Gäste. Lamartine bemerkte an der Nervosität des Alten, daß etwas in der Luft lag. Er schob ihn beiseite und durchquerte den
verlassenen Gastraum. Auf den Tischen standen noch die Teller vom Abend zuvor. In einem Topf ohne Deckel entdeckte Lamartine
ein schwarzes Haarbüschel mit einer grauweißen Schwarte. Er sah schnell weg.
Zwei kräftige Männer, die Lamartine noch nie gesehen hatte, traten ihm in den Weg. Beide hielten die knorrigen Stöcke aus
Eichenholz in den Händen, die früher Pariser Polizisten in Zivil mit sich trugen, wenn sie auf Streife gingen. Mit den Holzstöcken
konnte man – selbst wenn man kein sehr kräftiger Mann war – einem Gegner mit einem einzigen Schlag den Schädel zertrümmern.
Die Pariser Ganoven fürchteten sie mehr als Handfeuerwaffen, die viel zu ungenau und zu unhandlich für Auseinandersetzungen
in dunklen Hauseingängen waren.
Einer der beiden hob seinen Stock. Lamartine duckte sich instinktiv. »Verschwinde!« sagte der andere. Der Inspektor griffin die Innentasche seiner Jacke und zog an der dünnen Uhrkette die Marke der Polizei hervor. Den mit dem Stock schien das
nicht zu beeindrucken.
Niemals hätte sich Lamartine auf einen Kampf eingelassen – erst recht nicht mit zwei ihm körperlich überlegenen Gegnern. »Ich
muß Lecoq sprechen!« erklärte er laut.
Die beiden sahen sich an. Der Stock sank langsam zu Boden.
Einer verschwand im Hinterzimmer und trat kurz darauf in Begleitung von Lecoq wieder in den Gastraum. Lamartine bemerkte beim
Öffnen der Tür, daß sich in dem Zimmer sehr viele Menschen befanden, die leise miteinander redeten.
Lecoq war verärgert. »Was wollen Sie noch?« fuhr er den Kollegen von der Kriminalpolizei an.
»Ich muß mit Ihnen reden«, antwortete Lamartine.
»Haben Sie jetzt die Hosen voll?« höhnte der Chef der Politischen Polizei.
Lamartine sah die
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