Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Deutschen gelungen war, Frankreich
auf dem Feld zu schlagen, wenn sie ihre neue Hauptstadt schon wie eine Militärkaserne angelegt hatten.
Die lange Reise steckte ihm noch in den Knochen. Als er aber aus dem Bahnhof trat, atmete er freier. Er fühlte sich wie in
der frischen Luft der Tuilerien. Obwohl es für einen Maitag sehr kalt war, beschloß Lamartine, die Pferdebahn in Richtung
Süden, auf deren Plattform sich die Menschen drängelten, fahren zu lassen und zu Fuß zu gehen.
Berlin war zwar noch nicht so unübersichtlich, so verworren, so mächtig wie Paris, aber die Hauptstadt der Deutschen hatte
schon die Ausdünstung einer Metropole. Berlin roch nach Eisen, nach Hartgummi, nach Karbid – und nach eiligen Menschen. Lamartine
fühlte sich wohl in Berlin. Der lange Weg nach Schöneberg tat ihm gut nach der einwöchigen Reise in muffigen Waggons.
Die Familie, deren Adresse der Invalide vom Bahnhof ihm aufgeschrieben hatte, hieß Wilke. Sie bestand aus einer knapp sechzigjährigen
Witwe mit einem Damenbart, einer schwarzhaarigen, etwas verhärmten, ungefähr dreißigjährigen Tochter und einem fünfzehnjährigen
Jungen mit feuchten Augen und einem ständig offenen Mund. Lamartine rechnete sich aus, daß seine Vermieterin schon weit über
vierzig Jahre alt gewesen sein mußte, als sie den Sohn zur Welt gebracht hatte. Das mochte die Ursache für seine merkwürdige
Erscheinung sein.
Die Witwe betrieb eine kleine Kohlenhandlung im Vorderhaus. Sie führte Lamartine zu einem Verschlag, der sich im Seitenflügel
unter dem Fenster zum Zimmer des Jungen befand.Man betrat die niedrige Schlafstelle, in der Lamartine nur gebückt stehen konnte, durch das Zimmer der jungen Wilke. Offenbar
fanden die Wilkes nichts dabei, daß der fremde Mieter am Bett der Tochter vorbei mußte, um zu seiner Unterkunft zu gelangen.
Die Miete war so niedrig, daß Lamartine den Verschlag auf der Stelle mietete.
Nachdem er für eine Woche im voraus bezahlt hatte, bat ihn die Witwe mit dem Hinweis darauf, daß der Mietpreis auch freie
Kost beinhaltete, in der Küche Platz zu nehmen. Daß er für das bißchen Geld auch ein Anrecht auf Verpflegung haben könnte,
war Lamartine gar nicht in den Sinn gekommen. Er wusch seine Hände und sein Gesicht unter der Wasserpumpe im Flur und betrat
dann die winzige Küche, in die so wenig Tageslicht fiel, daß ständig eine Petroleumlampe auf dem Kachelsockel über der Kochmaschine
brannte. Seine drei Mitbewohner saßen bereits am Tisch und blickten ihn erwartungsvoll an.
Lamartine nahm Platz. Die Witwe hob den Deckel vom Kochtopf. Es roch nach Schwefel.
Die Tochter nickte Lamartine aufmunternd zu. Offensichtlich wollte man dem Gast den Vortritt lassen. Der Pariser griff nach
dem Löffel in dem noch dampfenden Topf. Er dachte an die letzten Abende bei seiner Familie, an die bösen Worte, die Reste,
die man ihm zurückgestellt hatte, an die gierigen Blicke des Schwiegervaters.
Lamartine verspürte seit langem wieder richtigen Appetit. Er nahm sich eine gute Portion und gab die Kelle freundlich lächelnd
an die Alte weiter. Die nahm sich auch – aber beträchtlich weniger als der Gast. Die Tochter war an der Reihe. Sie nahm sich
noch weniger als ihre Mutter und tat ihrem Bruder auch nur eine halbe Kelle auf. Lamartine bereute es, sich so kräftig bedient
zu haben.
»Also«, sagte die Witwe.
Lamartines Magen knurrte. Er nickte dankbar und begannzu essen. Das Essen der Witwe Wilke schmeckte erst einmal nach – nichts. Dann glaubte Lamartine in einem Nebel von Schwefel,
Brandgeschmack und Salz Gemüse oder Obst und zerkochte Kartoffeln wahrzunehmen.
Die Witwe schaufelte den schwarzbraunen Brei in sich hinein, die Tochter manipulierte eine Gabelspitze des Essens auf ihrer
Zunge, kniff die Augen zusammen, legte dann aber das Besteck weg, der Junge bewegte zwar seine Lippen, rührte aber das Essen
nicht an.
»Schmeckt’s?« fragte die Witwe. Lamartine nickte und verteilte den Rest auf seinem Teller. Obwohl er fürchtete, das Essen
könnte ihm den seit Tagen angestrengten Magen umdrehen, aß er mechanisch weiter.
»Allet selbst einjeweckt«, erklärte die Witwe. »Die Pflaumen kommen aus’m Tiergarten. Vor drei Jahren jeerntet ...«
Lamartine kaute und nickte. Er aß und aß und beneidete die Tochter und den Sohn, die ihn anstarrten wie ein exotisches Tier.
Später, als er in seiner Kammer unter der kratzigen Pferdedecke lag, sehnte er sich nach
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