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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Jeanne, und daß er zu Hause so selten
     was zu essen bekam, machte ihm fast gar nichts mehr aus.
    Morgens rumorte es schon vor Sonnenaufgang in der Wohnung. Die Alte schmiß ihre Tochter, die sie mal Mia, mal Maria nannte,
     aus dem Bett. Die beiden zogen mit ihrem Handkarren zum Handelshof eines Schlesiers, bei dem sie – wie man dem Gast am Vorabend
     erklärt hatte – die Kohlen für die Brennstoffhandlung einkauften.
    Als Mutter und Tochter zurückkehrten und sich unter der Pumpe im Flur wuschen, war Lamartine schon in seinen Kleidern. Die
     Alte wirkte mürrisch an diesem Morgen, deshalb wartete Lamartine gar nicht erst, bis sie den Malzkaffee in der Küche aufgebrüht
     hatte. Er verabschiedete sich von den beiden Frauen, die ausgekühlt in der Küche standen, und erklärte, er werde vor Abend
     nicht wiederkommen. Sie nickten bloß müde.
    Draußen dämmerte es, und es roch nach Briketts. Lamartine ging durch den feuchten Morgen zum Anhalter Bahnhof zurück. In der
     verrauchten, aber immerhin gut geheizten Bahnhofswirtschaft ließ er sich eine große Tasse Kakao bringen.
    Lamartine beobachtete die fahlen Reisenden, die Trinker, die von der Nacht übriggeblieben waren und sich nun ein warmes Getränk
     leisteten, und die vor Kälte zitternden Strichjungen, die wie auf einem Ausflug zusammen an einem runden Tisch saßen, laut
     lachten, aber aufmerksam die Schwingtür am Eingang beobachteten – entweder um vor Razzien gewarnt zu sein oder um keinen Freier
     zu verpassen. Lamartine kannte die Gäste der Bahnhofswirtschaft – es waren dieselben, die um diese Zeit am Gare de l’Est oder
     am Gare du Nord herumlungerten.
    Er stand auf und holte sich einen Zeitungshalter von der Garderobe. Es dauerte eine Weile, bis Lamartine zwischen all den
     langatmigen Artikeln über die triumphale Rückkehr der siegreichen deutschen Truppen eine Meldung aus seiner Heimat fand. Auf
     Seite acht der ›Vossischen Zeitung‹ fand er in der rechten unteren Ecke einige Zeilen, die die deutschen Leser über die jüngsten
     Ereignisse in Paris unterrichteten. Lamartine las sie mehrmals – es dauerte, bis er den Sinn der Meldung verstand.
    Der Ministerpräsident, den die deutsche Zeitung Tiers anstatt Thiers schrieb, hatte sich mit seiner Regierung nach Versailles
     zurückgezogen, auch der Rest der französischen Armee, der in Berlin »kläglich« genannt wurde, war vor den Barrikadenkämpfern
     aus der Stadt gewichen. Davon, daß die Bevölkerung von Paris sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen hatte, weil
     Thiers den Fehler begangen hatte, die Nationalgarde zu entwaffnen und sich damit offen gegen das Volk zu stellen, war in der
     Berliner Zeitung keine Rede. Vielmehr hieß es, bei den Anhängern der sogenannten Pariser Kommune handelte es sich um kriminelle
     Elemente und heimlich aus London angereiste Agenten der Kommunistischen Internationalen Arbeiter-Assoziationdes Aufwieglers Karl Marx. Dieser Geheimbund aus Umstürzlern, Bombenlegern und verblendeten englischen Arbeitern hätte sich
     gemäß der Satzung vom 28.   9.   1864 zum Ziel gesetzt, rechtmäßige Regierungen in ganz Europa zu stürzen und durch sogenannte Räte, also durch ihre eigenen
     Leute zu ersetzen. In Frankreich habe man fruchtbaren Boden für umstürzlerische Parolen gefunden, da es dort vielerorts unverbesserliche
     Menschen gab, die den ehrlich errungenen Sieg Deutschlands nicht ertrugen und deshalb nach einer schnellstmöglichen Revanche
     lechzten. Diesen Elementen sei der zwischen dem deutschen Kaiser und der französischen Regierung am 28.   Januar geschlossene Waffenstillstand ein Dorn im Auge, stelle er doch den ersten Schritt zu einem Friedensvertrag dar. Man
     habe die Massen gegen die Deutschen und gegen die vernünftigen Kräfte in Frankreich aufgehetzt und mache keinen Hehl aus seiner
     Absicht, so schnell wie möglich wieder gegen die Sieger ins Feld zu ziehen. In einigen Bezirken der französischen Hauptstadt
     hätten die Aufrührer die Bevölkerung erneut bewaffnet. So sei es nur natürlich, daß die in Frankreich zur Sicherung der öffentlichen
     Ruhe und Ordnung verbliebenen deutschen Truppen sich nun an die Seite der bürgerlichen Regierung stellten, um das Erreichte
     zu bewahren. Deutsche und französische Verbände hätten die Hauptstadt bereits umstellt. Ihr Eingreifen stehe kurz bevor.
    Lamartine ließ die Zeitung sinken. Wenn die deutschen Besatzer plötzlich zu Freunden, ja sogar zu Waffenbrüdern im Kampf

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