Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
Vom Netzwerk:
verhindern, daß er in einer schwachen Minute doch noch dem Rat des
     Kriminaldirektors folgte.
     
    Am Abend saß er in einer Überlandkutsche. Sie brauchte wegen der häufigen Kontrollen durch die Posten der Kommune und durch
     die am Stadtrand patrouillierenden bürgerlichen Truppen sechs Stunden, bis sie ein Dorf außerhalb der Stadt erreichte. Dort
     wurden die Pferde gewechselt und etwas Proviant aufgenommen. Aus Angst vor dem näherrückenden Geschützdonner ging es dann
     noch in der Nacht über kleine Landstraßen in Richtung Epernay weiter, wo die Linie endete. Am Mittag des folgenden Tages fand
     der Inspektor einen Spediteur, der ihn auf seinem Fuhrwerk bis Châlons mitnahm. Zwei Tage später traf er völlig übermüdet
     zu Fuß in seinem Heimatort ein.
    Lamartine war seit Jahren nicht mehr in Schauren gewesen und hatte auch wenig von sich hören lassen. Seine Tante Claire, die
     die Post des Ortes betrieb, begrüßte ihn dennoch herzlich und erlaubte ihm, in ihrem Häuschen zu wohnen. Der Neffe erzählte
     wenig von Paris, und die Tante gab sich mit der knappen Auskunft zufrieden, daß Jeanne sich wegen ihres Gesundheitszustandes
     die beschwerliche Reise nicht hatte zumuten können und deshalb bei eigenen Verwandten in der Nähe von Beauvais untergeschlüpft
     war. Lamartine war nicht der einzige Franzose, der sich vor den Kriegs- und Nachkriegswirren aufs Land geflüchtet hatte. Alle
     Schaurener, die in den nächsten Wochen dem schweigsamen und kränkelnd wirkenden Inspektor begegneten, nahmen an, daß er, sobald
     sich die Lage in der Hauptstadt wieder beruhigt hatte, ausgeruht an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde. Freiwillig würde
     der Pariser sicher keinen Tag länger als nötig in seiner nun zu Deutschland gehörenden Heimat bleiben.
    Um so erstaunter war man in dem lothringischen Dorf, als er in der zweiten Maiwoche erklärte, er wolle mit einem Bauern aus
     dem Dorf für einen Tag nach Metz reisen, um dort bei den neuen deutschen Behörden wichtige persönliche Angelegenheiten zu
     regeln. Auf dem Markt von Metz verabschiedete sich Lamartine von dem Schaurener und erklärte, seine Geschäfteerforderten wohl doch mehr Zeit als angenommen, man sollte deshalb nicht auf ihn warten.
    Lamartine ging geradewegs zum Bahnhof und bestieg die Eisenbahn nach Saarbrücken. Dort fand er noch am selben Tag eine Kutsche,
     die über Kaiserslautern, Worms und Mainz bis Frankfurt fuhr. Drei Tage später nahm er in Frankfurt den Zug nach Bamberg. Von
     dort aus fuhr er zügig über Plauen weiter nach Leipzig, von wo aus er nach einem kurzen Aufenthalt über Halle und Köthen nach
     Berlin gelangte.

ZWEITER TEIL
BERLIN
    Die Stimmung im Land der Sieger war alles andere als feindselig. Lamartine wurde von den Zollbeamten und von seinen deutschen
     Mitreisenden gönnerhaft behandelt – wie das Opfer einer Naturkatastrophe. Er empfand diese Haltung als besonders kränkend.
     Ein schlechtes Gewissen hatten die Barbaren – wie Lamartine die Deutschen heimlich nannte – offensichtlich nicht, aber sie
     schienen dem Besiegten gegenüber die Nachsicht des Stärkeren zeigen zu wollen.
    Sein Deutsch – das etwas gurgelnde Deutsch der Franzosen aus Elsaß-Lothringen – war bei weitem nicht so gut wie das Französisch
     von Stieber, aber für Lamartines Zwecke genügte es.
    In der überfüllten, fast zweihundert Meter langen Bahnsteighalle des Anhalter Bahnhofs, dem Kopfbahnhof der Berlin-Anhaltischen
     Eisenbahn, erkundigte er sich nach einer günstigen Unterkunft. Der mürrische Einarmige, der in einem Holzkasten kauerte, nannte
     die Adresse einer der für Kriegsheimkehrer auf dem Weg in den Osten eingerichteten Schlafstellen. Sie kostete nur den Bruchteil
     der Miete einer Pension.
    Lamartine beunruhigte die Aussicht, als Franzose bei einer Berliner Familie in der Küche zu sitzen, deren Vater, Großvater
     oder Sohn im Krieg geblieben war. Dennoch machte er sich mit dem Zettel des Invaliden auf den Weg in den Südwesten, nach Schöneberg.
     Er wußte nicht, wie lange sein Aufenthalt in Berlin dauern würde, und seine finanziellen Mittel waren begrenzt.
    Lamartine hatte sich anhand des großen Stadtplanes in der Bahnhofshalle orientiert. Er fand Berlin topographisch weniger kompliziert
     als Paris: Die noch junge Stadt bestand aus sich rechtwinklig schneidenden, kerzengeraden Straßen, die fast gleich große Karrees
     bildeten. Berlin erschien Lamartine wie ein riesiges Exerzierfeld. Kein Wunder, daß es den

Weitere Kostenlose Bücher