Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
gegen
die Aufständischen geworden waren, so erschien seine Haltung Stieber gegenüber doch in einem ganz anderen Licht: nämlich als
patriotische Tat. Eigenartigerweise konnte sich Lamartine an dieser Erkenntnis nicht erfreuen. Der fette Kakao verursachte
ihm plötzlich solche Blähungen, daß er den Kellner rief, bezahlte und hinaus in die Kälte flüchtete.
Lamartine ging zur nächsten Polizeiwache und erklärte, ein Kollege aus Paris zu sein, in einem Mordfall zu ermitteln und mit
Wilhelm Stieber, einem wichtigen Zeugen, sprechen zu wollen. Der Beamte legte ein Schriftstück über Lamartines Anfrage an,
dann verschwand er mit dem Papier in einem Hinterzimmer. Lamartine nahm auf einer Holzbank Platz und dachte daran, daß es
in Berliner Amtsstuben nicht anders zuging als in Pariser Amtsstuben.
Es dauerte fast eine Stunde, bis der Polizist wieder aus dem Zimmer seines Vorgesetzten kam. Der Beamte stempelte das Schriftstück
und legte es, nachdem er es gelocht hatte, in einen Ordner ab. Den Ordner verschloß er in einen Schrank. Lamartine hatte das
Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.
»Daß wir Ihnen Auskunft erteilen«, begann der Beamte nach einer langen Pause, »ist pures Entgegenkommen einem Kollegen gegenüber.
Wir sehen uns weder nach der Sachlage, noch aus Verpflichtungen Ihrem Land gegenüber dazu veranlaßt ...« Da der Beamte, der es vermied, Lamartine in die Augen zu blicken, eine Pause einlegte, glaubte Lamartine, er erwarte
seine Zustimmung, und nickte heftig. Der Berliner Polizist verbat sich mit einer Handbewegung jede Äußerung des Bittstellers.
»Folgendes geben wir Ihnen zur Kenntnis, Herr Lamartine. Herr Wilhelm Stieber ist uns kein Unbekannter, allerdings steht Herr
Stieber nicht mehr im Dienst der preußischen Polizei. Den jetzigen Aufenthaltsort des Herrn Stieber zu ermitteln, sehen wir
keinerlei Veranlassung. Sollte uns jedoch binnen vierzehn Tagen eine förmliche Bitte des Pariser Polizeipräsidenten um Amtshilfe
vorliegen, so werden wir das Anliegen prüfen ...«
»Würden Sie mir wenigstens die Adresse des Herrn Stieber mitteilen?«
Der Beamte sah verärgert aus, er schien es aber für ratsam zu halten, seinem Ärger keinen freien Lauf zu lassen. »Leider verfügen
wir nicht über diese Angabe!«
»Aber es gibt doch ein zentrales Einwohnermeldeamt ... Esheißt doch immer, die Preußen haben die Verwaltung revolutioniert.«
Der Beamte wuchs hinter dem schweren Tresen. »Erstens«, trompetete er so laut, daß Lamartine annehmen mußte, er wolle auch
seinen im Hinterzimmer sitzenden Vorgesetzten teilhaben lassen. »Erstens: Wenn jemand das Verwaltungswesen übertrieben hat,
dann waren das Ihre Landsleute und Ihr erster Kaiser. Zweitens: Auch wenn wir hier über ein Einwohnerregister verfügen, so
heißt das noch lange nicht, daß sich jeder dessen bedienen kann!«
»Sie wollen mir die Adresse also nicht geben?!«
»Herr Stieber gehörte lange Jahre zur Leitung der Polizei und steht deshalb bis zu seinem Lebensende unter dem besonderen
Schutz der Staatsorgane!« Dann schnaufte er und beugte sich über ein anderes Schriftstück.
Lamartine überlegte, wie er dem Beamten beikommen könnte. Plötzlich schaute der Polizist auf und brüllte Lamartine an: »Guten
Tag!« Der Franzose verstand. Er verließ die Wache.
Er lief viele Stunden durch die Stadt und dachte nach.
Als Lamartine am Nachmittag zur Wohnung der Witwe Wilke zurückkehrte, kochte die Alte in der Küche Pflaumen ein. Sie zerstampfte
die Früchte zu einem Mus und schüttete es in Gläser, die sie mit Gummiringen verschloß und zum Abkochen in einen Bottich stellte.
Lamartine war erleichtert darüber, daß die Pflaumen für ferne Tage eingeweckt wurden.
»Wollen Se wat essen?« fragte sie. »Ick kann den Rest von jestern uffwärmen!«
Lamartine lehnte etwas zu heftig ab, die Witwe widmete sich mürrisch wieder ihrer Arbeit.
Der Mieter hätte sich gerne zurückgezogen, aber er konnte ja nicht jetzt schon seinen Verschlag aufsuchen. Also setzte er
sich stumm an den Tisch, er war totmüde.
»Ham Se denn wat erreicht?« fragte die Witwe.
Lamartine seufzte. »Nein!«
»Tja«, seufzte die Alte. »Wir ham zwar den Krieg jewonnen, aber dennoch geht’s den einfachen Leuten nich besser. In Berlin
sind derzeit keene juten Jeschäfte zu machen, wa?«
»Das wird sich ändern, wenn mein Land die Reparationen überwiesen hat. Deutschland wird mit Geld
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