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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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überschwemmt werden«, sagte
     Lamartine bitter.
    »Verhungert is bei euch doch noch keener!« krächzte die Witwe. »Und dieser Krieg hat uns viel Jeld jekostet. Schon am Tag,
     nachdem w’r unsere Söhne am Bahnhof verabschiedet ham, sind die Brotpreise in Berlin in die Höhe jeschossen.« Sie tippte sich
     mit ihrem vom Mus verschmierten Zeigefinger auf die Brust. »Ick hab diesen Krieg mit meinem sauer verdienten Jeld bezahlt,
     wa! Meene Kinder mußten dafür hungern!«
    Lamartine erhob sich langsam. »Ich habe Sie nicht darum gebeten   ...«
    »Aber dem König jejenüber habt ihr euch so unvaschämt benommen, daß er jar nicht anders konnte, als in den Krieg ziehen.«
    Lamartine spürte, wie sein Herz vor Empörung pochte, er wußte genau, jeden Augenblick würde er schreien. »Eingekreist hat
     Preußen uns. Die Thronfolge in Spanien war doch nur der letzte Schritt. Hohenzollern sitzen in allen Fürstenhäusern um Frankreich
     herum, ihr hättet uns ins Meer gedrängt, wenn wir uns nicht gewehrt hätten. Euer Kaiser ist ein Menschenfresser, und dieser
     Bismarck treibt ihm die Opfer zu.« Er wußte selbst nicht, warum er sich so ereiferte – zu Hause hatte er das nie getan.
    Die Witwe wischte sich die Hände mit der Schürze ab und sah dabei ihren Gast triumphierend an. »Ick vasteh nich viel von die
     Politik, mein Herr«, sagte sie grinsend. »Und allet dette, wat Se sagen, is mir ooch schnuppe. Aber eenes weeß ick janz sicher:
     Ihr Land hat mein Land den Krieg erklärt – und nicht umjekehrt, wa!«
    Lamartine schluckte. Er hätte jetzt vieles sagen können, aberes fehlte ihm die Überzeugung, daß es fruchtete. Diese Deutschen hatten eine Art, mit schwierigen Problemen umzugehen, die
     ihn hilflos machte: Sie spitzten alles auf eine einzige Frage zu, auf eine Banalität, die jede vernünftige Erörterung unmöglich
     machte. Sie gingen mit ihrem Unverständnis um wie mit einer Tugend. Die Witwe Wilke war da nicht anders als Stieber.
    Sie legte einen Gummiring auf den Rand eines Glases mit Mus, drückte den Deckel darauf und stellte das Glas in den Bottich
     zu den anderen.
    »Gerade eben ist Ihnen eine Fliege ins Glas geflogen!« sagte Lamartine.
    »Na und?« fragte sie. »Glooben Se, det schmeckt noch jemand, der’s nich weeß?«
    Schon wieder, dachte Lamartine. Dagegen war er machtlos. Er stand auf, ging in den Flur und wusch sich die Hände und das Gesicht.
     Plötzlich stand die Witwe neben ihm. Sie hielt ihm das Küchenhandtuch hin. Er benutzte es nur für die Hände.
    »Ham Se eijentlich Familie, Herr Lamartine?« fragte sie.
    »Ja. Ich bin verheiratet. Meine Frau hat sich vor den schrecklichen Ereignissen in Paris aufs Land geflüchtet.« Von dem Kind,
     das Jeanne erwartete, sagte er nichts.
    »Wenigstens is Ihre Frau in Sicherheit«, sagte die Alte freundlicher.
    »Ja«, sagte Lamartine. In diesem Augenblick hätte er heulen können vor Heimweh.
     
    Als er schon Stunden wach in seinem Verschlag lag, ohne einschlafen zu können, hörte er, wie die Tochter der Witwe das Nebenzimmer
     betrat, sich leise auszog und dann ins Bett schlüpfte. Er verhielt sich so ruhig, daß er ihren Atem hören konnte. Das alte
     Bett knarrte. Von dem Jungen, der schon vor Lamartine schlafen gegangen war, war nichts zu hören. Plötzlich stand auch der
     Atem der jungen Frau still. Lamartine wußte, daß sie auf ein Geräusch von ihm horchte. Er räuspertesich. Es war ihm daran gelegen, daß sie wußte: Er war noch wach. Das Bett knarrte laut: Wahrscheinlich hatte sie sich zur
     Wand gedreht – weg von ihm, dem Gast aus der Fremde.
    Lamartine überlegte, wie lange es her war, daß er mit einer Frau geschlafen hatte. Es war nicht Jeanne gewesen, sondern die
     Prostituierte, die ihn aus dem Bistro mit in ihr Mansardenzimmer genommen hatte. Er drehte sich ebenfalls mißmutig zur Wand,
     schloß die Augen und versuchte, an Jeanne zu denken. Sicher wußte sie längst, daß er als Verräter galt. Wer weiß, wie sehr
     Jeanne sich gehenließ? Ob die Schwiegereltern ihr mit Rechthabereien zusetzten?
    Lamartines Mutter hatte ihm einmal erzählt, daß sie, während sie mit ihm schwanger war, nächtelang hatte weinen müssen, weil
     ihre Mutter plötzlich an einer Hirnhautentzündung verstorben war. Lamartine wußte nicht, ob es durch die Erzählung der Mutter
     ausgelöst worden war oder ob der Schmerz der Schwangeren in ihm nachwirkte: Auf jeden Fall erinnerte er sich gut daran, daß
     er während seiner Kindheit

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