Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
ständig Angst hatte, seine Mutter zu verlieren. Die ersten Jahre in der Schule waren eine Tortur
für ihn gewesen, denn er dachte den ganzen Morgen nur daran, daß er nach Hause kommen und die Mutter tot auffinden könnte.
Unversehens begann Lamartine zu flüstern, er redete auf jemanden ein, auf sein ungeborenes Kind – und darüber wurde er wieder
zuversichtlicher: »Mach dir keine Gedanken, mein Kind! Bald bin ich wieder da. Dann wird alles gut. Sie werden nicht mehr
schimpfen, keiner wird mich mehr schlechtmachen. Alles wird ans Tageslicht kommen, keine Lügen mehr, keine Vorwürfe ...«
Im Nebenzimmer tat sich etwas, jemand durchschritt den Raum. Es wurde zaghaft an die Tapetentür geklopft. Lamartine stellte
sich schnarchend – sollte sie doch glauben, er habe im Schlaf geredet. Es klopfte wieder. »Herr Lamartine?« zischte die Frau.
Lamartine tat, als wäre er aus tiefem Schlaf gerissen worden.»Was gibt’s?« murrte er. Er richtete sich auf und fuhr mit der Hand durchs Haar. Die Tür öffnete sich, Licht fiel herein.
Lamartine blinzelte. Das Gesicht der Tochter erschien. Lamartine war etwas enttäuscht: Tagsüber war sie hübscher als nachts.
Sie zupfte vorsichtig an seinem großen Zeh. Lamartine zog unwillkürlich das Bein an.
»Sie haben Besuch!« sagte die Frau und zog sich wieder zurück. Dann erschien ihr Kopf noch einmal in der Tür; sie legte den
Zeigefinger auf die Lippen und sagte: »Psst! Mein Bruder schläft.«
Lamartine quälte sich aus seinem Verschlag. Das Licht der Petroleumlampe, die die junge Wilke in der Hand trug, biß ihm in
die Augen. Lamartine schloß sie für einen Moment. Als er sie wieder öffnete, stand Wilhelm Stieber vor ihm.
»Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Lamartine verdutzt. Etwas anderes fiel ihm nicht ein, er kam sich dumm vor.
Stieber winkte ab. »Aber Monsieur Lamartine, wir sind doch beide Polizisten, wir wissen beide, wie schnell man jemanden findet.
Sie haben es mir vor gar nicht langer Zeit vorgeführt, Herr Kollege. Viel eher müßte es Sie interessieren, woher ich wußte,
daß Sie in der Stadt sind ...«
Lamartine entgegnete gereizt: »Natürlich hat man es Ihnen von dem Revier aus gemeldet. Ich habe bemerkt, daß im Hinterzimmer
etwas vorging, während ich mit dem Wachtmeister sprach.«
Stieber wandte sich an die Frau, die den beiden mit der Petroleumlampe leuchtete und verstohlen gähnte. »Geben Sie mir die
Lampe und lassen Sie uns allein!«
Mia gehorchte. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schob Stieber das Bettzeug der jungen Frau beiseite, nahm auf
der Bettkante Platz und bat Lamartine mit einem Wink, sich neben ihn zu setzen. Lamartine sträubte sich dagegen, das Bett
schien noch warm zu sein. Stieber hatte sich in seinem Gehrock auf das Laken gesetzt. »Wollen Sie stehenbleiben?« fragte er
auf französisch.
»Vielleicht mag sie es nicht, wenn wir uns auf ihr Bett setzen«, antwortete Lamartine in seiner Muttersprache.
Stieber grinste. »Ihr wäre es lieber, wir würden uns gleich mit ihr hineinlegen. Die Dame ist polizeibekannt – wenn Sie mich
verstehen.«
Da nahm auch Lamartine Platz. Das Bett war wirklich noch warm. Er spürte plötzlich ein so heftiges Verlangen nach der Nähe
Mias, daß er seine Hand unter das Federbett schob.
»Ich habe mich natürlich in Paris erkundigt, was aus Ihnen geworden ist. Man sollte immer Bescheid darüber wissen, was Leute
unternehmen, die einem Böses wollen«, erklärte Stieber.
»Ich will Ihnen nichts Böses, ich will nur, daß Sie mich vor meinen Landsleuten rehabilitieren – jetzt wo sich das Blatt gewendet
hat.«
»Ich bin ausgemustert, kein Mensch legt mehr Wert auf mein Wort.«
»Sie sind Polizist, und einem Polizisten glaubt man in Paris.«
»Ich bin nicht mal mehr Polizist. Man benötigt in Berlin meine Dienste nicht mehr. Wer sich als Kriminalbeamter in die Nähe
der Politik wagt, wird nur gehalten, solange es Krisen gibt. Momentan herrscht in meinem Land eitel Freude über den Sieg,
über die Reparationen und natürlich über die Einheit. Keine dunkle Wolke am Horizont – also werden Menschen wie ich nach Hause
geschickt. Das ist bitter, aber unsereiner muß damit leben. Letzten Endes ist uns beiden das gleiche Schicksal widerfahren.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir: Ich bin ein älterer, erfahrener Kollege, ich erlebe eine Zurücksetzung nicht zum ersten
Mal ...«
Lamartine unterbrach ihn harsch: »Es
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