Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
mehr zu betreten. Die Zeiten sind vorbei, wo man sich
als Übeltäter über die Stadtgrenze geflüchtet hat und dann vor der Staatsgewalt sicher war!«
Stieber markierte eine zackige Verbeugung und verließ das Zimmer. Die Tür ließ er offen, so daß Lamartine hörte, wie er draußen
die alte Wilke zusammenstauchte. Sie habe jemanden in ihre Wohnung aufgenommen, der nach Berlin gekommen war, um Unfrieden
zu stiften. Sie sollte sich reiflich überlegen, ob sie den Fremden weiterhin beherbergen wollte. Unter Umständen würden die
Behörden sie als Komplizin ansehen ...
Lamartine trat im Schlafanzug auf den Flur und schrie Stieber auf deutsch an: »Ich denke, Sie gehören der Polizei nicht mehr
an! Wieso können Sie dann diesen Leuten drohen?«
Stieber beachtete ihn nicht. »Ihre Tochter hatte schon einmal eine Anzeige wegen Prostitution am Hals. Wollen Sie, daß sich
das wiederholt?« fuhr er die Witwe an. Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Wohnung.
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann rannte die Tochter in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Sie bringen mir keen Glück nich, Herr Lamartine«, wandte sich die Alte an Lamartine. »Ick denk nich dran, Sie off der Stelle
vor de Tür zu setzen. Aber morjen früh packen Se Ihre Sachen!«
Am schlimmsten war es für Lamartine, das Zimmer der Tochter durchqueren zu müssen. Sie hatte sich die Decke über den Kopf
gezogen und schluchzte. Das Bettzeug bebte leicht. Lamartine zögerte einen Moment, dann setzte er sich auf die Bettkante.
Erst berührte er die Überdecke nur mit den Fingerspitzen, dann wagte er es, die Hand auf Mias Schulter zu legen. Das Beben
hörte augenblicklich auf. Lamartines Berührung schien die junge Wilke etwas zu beruhigen. Er verstärkte den Druck seiner Hand.
Die Schulter fühlte sich weich undschwach an. Da riß sich Mia die Decke vom Kopf; ihre Haare waren zerzaust, ihre Augen, die böse blitzten, verheult. »Was fällt
Ihnen ein?« zischte sie.
Lamartine riß seine Hand zurück. »Ich wollte nur ... ich dachte ...« stammelte er.
»Ick weeß, wat Se wollen«, entgegnete sie, die Tränen schossen ihr schon wieder in die Augen, und sie zog die Nase hoch. »Dieser
Mensch hat Se ja jradezu einjeladen ...«
Mia tat Lamartine leid, aber er wagte es nicht, die Frau noch einmal zu berühren. Er stand auf und flüsterte: »Es handelt
sich um ein Mißverständnis! Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen nicht zu nahe treten wollte. Ich bemerkte, daß es Ihnen schlechtging,
und wollte sie trösten ... sonst nichts, bitte glauben Sie mir das!«
Die Frau hörte auf zu weinen und richtete sich im Bett auf, das Haar, das, wie Lamartine erst jetzt bemerkte, an einigen Stellen
schon grau war, fiel in Strähnen über ihre Schultern, das Nachthemd war unter den Achseln aufgerissen. Lamartine sah ihren
Brustansatz.
»Is jut. Ick gloobe Ihnen ja«, erklärte die Frau. Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, sah danach aber noch verheulter
aus als vorher. »Det ist bloß so: Ick werd det nich mehr los ...«
»Was?« fragte Lamartine.
»Tun Se nich so! Sie haben doch jehört, wat der Kriminaler jesagt hat. Sie haben mich mal aufjejriffen. Im Scheunenviertel.
Ick hab’s nur een eenzijes Mal jemacht. Aus Not. Und der erste Freier war gleich een Polizeispitzel. Vor zwei oder drei Jahren.
Ick wußte nich mehr ein noch aus. Dat Kohlenjeschäft funktioniert doch nur im Winter, und auch dann nur, wenn’s klirrend kalt
is. In der warmen Jahreszeit haben wir Mühe, die Miete zu zahlen. Jetzt wird’s Frühjahr, und wir valier’n och noch unseren
Logisgast. Dat bringt uns wieder in Schwierigkeiten, Herr Lamartine. Det Leben ist hart in Berlin ...«
»Mir tut das alles leid!« beteuerte Lamartine. »Aber ich kann nichts dafür. Dieser Stieber ist ein Hund – und ich bin gekommen,um ihn zur Verantwortung zu ziehen für ein Verbrechen, das er in meiner Heimat begangen hat.«
»Und unsereener muß darunter leiden ...« seufzte die Frau und ließ sich ins Kissen zurückfallen. Der Riß in ihrem Nachthemd klappte zu. Sie schloß die Augen.
»Aber nie mehr ... hören Sie: nie mehr, tue ick dette, wat ick vor zwee Jahren jetan hab. Wenn eener etwas bereut hat, dann bin icke det.
Und dennoch hängt’s mir an wie eine ansteckende Krankheit. Ick trau mir schon off keene Behörde mehr. Und erst meen armer
Bruder. In der Schule hänseln se ihn deswegen ... Een kleener
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