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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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kalt wie im Winter. Es roch wieder nach Brikettglut.
    Lamartine verfluchte Berlin.
     
    Bismarck schrieb: »Ich will auch gar keine Kolonien. Die sind bloß zu Versorgungsposten gut. In England sind sie jetzt nichts
     anderes, in Spanien auch nicht. Und für uns in Deutschland wären Kolonien genauso wie der seidene Zobelpelz in polnischen
     Adelsfamilien, die keine Hemden haben.«
    Lamartine ließ die Zeitung sinken und nahm einen Schluck Kakao. Sofort begann sein Magen zu grummeln. Aber er mußte etwas
     Warmes trinken, und Kaffee bekam er nicht herunter.
    Wenn Bismarck jetzt erklärte, Deutschland wolle keine Kolonien, weil sie ein Luxus seien, den sich das Reich, das gerade erst
     auf die Beine kam, nicht leisten könnte, dann war das so vernünftig wie sich Lamartine seine französischen Politiker schon
     lange wünschte. Was hatten die Kolonien Frankreich gebracht? Nichts als Ärger. Die Lebensmittel, die aus Algerien geliefert
     wurden, könnten die französischen Bauern selbst leicht herstellen, wenn nur die Franzosen dazu bereit wären, realistische
     Preise für einheimische Erzeugnisse zu bezahlen – und das waren sie, wie Lamartine bei den Ereignissen während der Belagerung
     von Paris erlebt hatte.
    Die Vorteile Algeriens, des Senegals und einiger ägyptischer Provinzen wogen die Unannehmlichkeiten nicht auf: Gouverneur
     General Faidherbe, ein Feuerkopf, dem die Regierung sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hatte, führte sich in Afrika
     wie ein Gott auf. Sogar eine Stadt hatte er gründen wollen und aus Paris dafür die nötige Unterstützung erhalten. Und dann
     dieser unselige Lorcha-Krieg. Weil die Briten sich wegen der Verwendung ihrer Flagge auf einer winzigen Dschunke namens Lorcha
     aufregten, mußte Frankreich an ihrer Seite gegen China in den Krieg ziehen: Zwei Jahre lang kämpften europäische Soldaten
     gegen eine hoffnungslos unterlegene chinesische Streitmacht, um ein Fort namens Taku zu erobern, das die Engländer für die
     Belagerung Hongkongs benötigten. Für Lamartines Heimatland sprang nichts dabei heraus. Im Gegenteil: Vor wenigen Monaten war
     Frankreichs Konsul beim Aufruhr von Tientsien von der Menge stundenlang gequält und dann ermordet worden. Verhielten sich
     die als machtgierig geltenden Preußen da nicht viel klüger, indem sie ganz und gar auf Kolonien verzichteten?
    Lamartine wollte Deutschland endlich verstehen. Vorerstaber wußte er nicht einmal, wo er die nächsten Tage schlafen sollte – ganz zu schweigen davon, daß er nach Stiebers Drohungen
     damit rechnen mußte, ergriffen und ausgewiesen zu werden.
    Jemand klopfte mit dem Knöchel auf die Tischplatte. Lamartine sah auf. Der Gast war Anfang zwanzig und sehr zierlich, er trug
     ein blaues Halstuch über der engen Weste und für den kalten Berliner Mai viel zu dünne Hosen, die aus den Nähten zu platzen
     drohten. »Darf ich Platz nehmen?« fragte er. Er hatte einen Akzent, den Lamartine nicht einordnen konnte. Lamartine nickte
     und blickte wieder in die Zeitung. Der Ober trat an den Tisch und wischte mit seinem Tuch zweimal über die Tischplatte.
    »Was möchtest du?« fragte er harsch.
    »Einen Kaffee.«
    »Hast du Geld?«
    »Der Herr bezahlt.«
    Erst das gespannte Schweigen der beiden alarmierte Lamartine. Er sah verdutzt auf. Beide blickten ihn an: der Junge herausfordernd,
     der Kellner eher verärgert.
    »Was is jetzt?« drängte der Kellner.
    Der Junge beugte sich etwas vor, legte seine Hand auf Lamartines Unterarm und flüsterte: »Es ist wegen   ... Stieber.«
    »Der Herr ist eingeladen!« sagte Lamartine sofort.
    Der Kellner starrte auf die Hand des Jungen. »Aber ihr benehmt euch wie anständige Gäste, sonst fliegt ihr raus!« maulte er,
     bevor er den Tisch verließ.
    Lamartine war jetzt klar, daß der Junge zu den Strichern gehörte, die die Bahnhofskneipe bevölkerten. Er zog seinen Arm unter
     der Hand des Jungen weg. »Was wollen Sie?«
    Der Junge schwieg. Lamartine wartete, bis der Kellner den Kaffee serviert hatte, dann wandte er sich wieder an seinen Gast:
     »Wer schickt Sie?«
    Der Junge trank vorsichtig einen Schluck des dampfenden Kaffees. Er schien völlig ausgekühlt zu sein, er legte beideHände um die Tasse. Wahrscheinlich hatte er die Nacht auf der Straße verbracht. Er wischte sich den Mund ab, zog eine schon
     fast zerbröselte Zigarette aus der Weste und ließ sich am Nebentisch Feuer geben.
    »Nun reden Sie schon!« fuhr Lamartine ihn an. »Woher wissen Sie, daß ich

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