Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
bisher wie eine Fruchtblase gehütet und vermehrt hatte, ohne jemals eine Gelegenheit zu finden, die angenehme
Last an jemanden weiterzugeben, der damit etwas anfangen konnte. Jeanne wandte, seit sie schwanger war, ihre gesamte Geisteskraft
zur Sicherstellung ihres Wohlbefindens auf, der Schwiegervater war ein Simpel, die Schwiegermutter seine Feindin, die beiden
alten Assistenten im Büro zwei stumpfsinnige Opportunisten. Wem also hätte er seine kostbaren Lesefrüchte anbieten können
– außer Georges Danquart, dem jungen Mann, den ihm die Kollegen von der Politischen Polizei überlassen hatten, ohne zu wissen,
auf welches Kleinod sie da verzichteten?
Als sie über den Vorplatz auf das Rathaus zuschritten, erläuterte Lamartine Danquart schnaufend vor Eifer, daß die Preußen
durch jenen Stieber in Versailles nicht nur ihr erstes Einwohnermeldeamt auf französischem Boden errichtet hatten. Sie hatten
auch Pläne der Zugangsstraßen zu ihrem Hauptquartier anlegen lassen, die Auskunft über Höfe und Eingänge jedes Hauses gaben,
damit Vorkehrungen für den Fall eines Anschlages getroffen werden konnten. Seine Zeitung hatte weiterhin berichtet, daß Listen
existierten über alle in Versailles lebenden Personen, denen ein Attentat zuzutrauen war, so daß die Deutschen diesen Personenkreis
überwachen und im Ernstfall sofort festnehmen konnten.
Danquart schien beeindruckt zu sein. Er blieb plötzlich stehenund sagte, er höre zum ersten Mal davon und könne sich insbesondere die letzte Maßnahme nicht vorstellen. Seit sich nämlich
herausgestellt hatte, daß die deutschen Besatzer nicht nur Feste feierten und bei Bedarf gegen die den Konservativen unliebsamen
Republikaner vorgingen, sondern auch essen und wohnen mußten, pro Tag an die 2000 Francs Kostgeld kosteten und das Vermögen Versailles schnell aufbrauchten, ebbe die Begeisterung deutlich ab. Die, die sie
früher freudig begrüßt hatten, führten plötzlich aufrührerische Reden und sprachen von der besudelten Ehre der Grande Nation.
Wie hätten die deutschen Beamten in einer solchen Atmosphäre an die Liste mit den zu Mordtaten gegen die Eindringlinge fähigen
Einheimischen gelangen können?
Lamartine nahm freudig zur Kenntnis, daß sein Gegenüber ein belesener Zeitgenosse war, der ihm in nichts nachstand. Welche
Zeitung er lese, fragte er seinen Untergebenen. Danquart zögerte, dann antwortete er stammelnd, er habe kein Blatt abonniert,
lese aber in Cafés und – manchmal auch – bei der Arbeit alles, was ihm unter die Finger komme. Er, fuhr Lamartine fort, lese
seit langem schon die Zeitung der Demokratenpartei, die ›Liberté‹. Vor ein paar Wochen sei ein preußischer Beamter mit zwei
Bewaffneten in die Räume ihrer Versailler Redaktion eingedrungen und habe die Abonnenten-Kartei konfisziert. Man sei wohl
bei der preußischen Feldpolizei des Herrn Stieber der Meinung, daß die Liste der potentiellen Attentäter gegen die Besatzer
identisch sei mit der der festen Bezieher dieser Zeitung. Diese Einsicht gab Lamartine nicht ohne Stolz weiter.
Obwohl er als Franzose und auch als aufrechter Demokrat die deutschen Besatzer hasse, so sei er aus beruflichen Gründen doch
recht dankbar für die verwaltungstechnischen Neuerungen, die sie seinem Land bescherten, erklärte der Inspektor dann etwas
ruhiger. Nachdem sie von Versailles aus nach Paris gezogen waren, hätten sie auch in der Hauptstadt ihre Anstrengungen fortgesetzt,
den preußischen Standard in die erobertenGebiete zu bringen. Wieder sei jener unermüdliche Stieber als Organisator der Zivilverwaltung eingesetzt worden, und der habe
auch sofort veranlaßt, daß die komplizierte napoleonische Verwaltung vereinfacht und nach Berliner Muster ein zentrales Einwohnermeldeamt
angelegt wurde, das sich derzeit im Rathaus im Aufbau befinde.
Diesmal schwieg Danquart. Lamartine schien es, als habe er den jungen Mann verärgert. Er überlegte noch, ob er den Nationalstolz
des Kollegen mit seiner pragmatischen Haltung gegenüber den Besatzern verletzt haben könnte. Aber da trat auch schon die Wache
vor dem Hôtel de Ville auf sie zu. Lamartine verfügte über ein improvisiertes Schreiben des Justizministeriums, das ihn zu
bestimmten Kooperationen mit anderen, auch von Deutschen geführten Behörden berechtigte. Das wies er vor, der Posten nickte
und ließ die beiden Kriminalbeamten passieren.
Sie sprachen im Keller des Gebäudes bei einem
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