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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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kleinere Büsche kreuzten seinen Weg, schrappten über die Stoßstange und das Blech, hatten aber dem Gewicht des Wagens nichts entgegenzusetzen. Erst im unteren, sich allmählich abflachenden Drittel, auf das er nun zuraste, wurde das Buschwerk dichter, und die knochigen Stämme vereinzelter Bäume ragten in den Himmel empor und säumten in einem etwa zehn Meter breiten Gürtel das rasch näher kommende Ufer. Mit Entsetzen stellte Tom fest, dass er dort auf eine Erhebung zusteuerte, die sich zunächst wie ein dunkler Schatten vor dem helleren Licht des Ufers abzeichnete. Erst etwas weiter unten erkannte er den in seine Richtung geneigten Stamm eines mächtigen Baumes, dessen Wurzeln dem Sturm nicht gewachsen gewesen waren. Er hatte sich in den Kronen benachbarter Bäume verfangen, die seinen Sturz aufgehalten hatten. Doch nun ragte das verästelte Wurzelwerk empor, in dem das Erdreich des aufgeweichten Waldbodens hing und auf das der Wagen unausweichlich zuraste.
    Während das dichter werdende Buschwerk gegen die Seiten des Autos peitschte, trat Tom mit aller Kraft auf das Bremspedal. Das raue Kratzen des Antiblockiersystems setzte ein, doch die Bremsen waren diesen extremen Umständen nicht gewachsen. Der Wagen zitterte und bebte, als wollte er sich wehren, und Tom hatte das Bild eines Hundes vor Augen, der sich verzweifelt gegen seine Leine stemmte, die ihn jedoch unaufhaltsam weiterzog.
    Ein weiterer Ruck erschütterte den Wagen, als etwas am Unterboden entlangschabte und das Endstück des Auspuffs abriss; das Summen des Motors wurde zu einem heiseren Röhren, das einem letzten Aufschrei glich.
    Tom schloss die Augen und presste sich, so fest er konnte, in den Sitz.
    Mit der Wucht einer Explosion krachte der Wagen gegen das Hindernis. Der Motorblock wurde hochgedrückt, Streben brachen und ächzten dabei wie die Schotten eines untergehenden Ozeandampfers. Das Knacken der armdicken Wurzeln, die wie Knochen brachen, wurde vom Kreischen sich verformenden Metalls übertönt. Der Volvo wurde herumgeschleudert und seitlich in die Höhe gerissen, so dass Tom einige Sekunden lang das Gefühl der Schwerelosigkeit empfand, während er sich langsam in der Luft drehte.
    Mit ohrenbetäubendem Getöse schlug das Dach auf dem Boden auf. Tom hätte nicht sagen können, wie oft sich der Wagen überschlug – vielleicht zweimal, vielleicht fünfmal –, weil oben und unten und rechts und links jede Bedeutung verloren hatten. Ein Schauer aus winzigen Splittern des Sicherheitsglases prasselte auf ihn ein, und ihm war, als zerre eine übernatürliche Kraft von allen Seiten gleichzeitig an ihm und mache ihn zum Spielball dieses Infernos. Er kniff die Augen zu und verlor sich in völliger Machtlosigkeit.
    Erst nach einer kleinen Ewigkeit ließ das Gefälle nach. Tom spürte, wie die Kräfte, die auf ihn einwirkten, nachließen, bis der völlig zertrümmerte Wagen schließlich am Seeufer auf den Rädern zum Stehen kam.
    Ich lebe! war sein erster Gedanke in diese übernatürliche Stille hinein, von der er nicht wusste, ob sie Realität oder dem entsetzlichen Lärm dieser Höllenfahrt geschuldet war, der ihn halb taub gemacht hatte. Er konnte den Regen spüren, der durch die glaslosen Fenster hindurch in den Innenraum prasselte und seinen erhitzten Körper angenehm kühlte, als wolle er ihm auf diese Weise signalisieren, dass er diesen Sturz tatsächlich überlebt hatte. Allerdings konnte Tom noch nicht sagen, ob das gut oder schlecht für ihn war.
    Vorsichtig öffnete er die Augen. Das Erste, was er sah, waren die beiden Wischblätter, die dreckig und verbogen in die Luft ragten wie die Knochen eines metallenen Skeletts. Dahinter erblickte er das vom Regen aufgepeitschte Wasser des Sees. Es erstreckte sich in einem Umkreis von etwas mehr als zweihundert Metern und füllte die gesamte Talsohle aus, die durch die düsteren Wolken in ein diesiges, unheilvolles Grau getaucht wurde.
    Langsam machte er sich daran, sich die Scherbensplitter von den Kleidern zu wischen, wobei er erleichtert und zugleich überrascht feststellte, dass er offenbar nicht verletzt war. Ein paar Prellungen und Abschürfungen an den Armen, aber keine nennenswerten Schäden. Nach dem, was er gerade durchlebt hatte, mutete das beinahe wie ein Wunder an. Noch immer kamen Trümmer und Geröll den Abhang heruntergeschliddert und sammelten sich an dessen Ausläufern.
    Toms Finger bekamen den Türgriff zu fassen und rüttelten daran, doch es tat sich nichts. Auf der

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