Stigma
Beifahrerseite brauchte er es gar nicht erst zu versuchen. Dort hatte sich das Dach durch den Aufprall um gut die Hälfte gesenkt, so dass der Türrahmen völlig verzogen war.
Wenn das auf meiner Seite passiert wäre … ging es ihm durch den Kopf, als er das verbogene Stahlblech betrachtete, doch er dachte den Gedanken nicht zu Ende.
Mit dem Oberkörper voran kroch er durch das zertrümmerte Fenster der Fahrerseite nach draußen. Der Regen hatte noch zugelegt und prallte am Blech des Wagens ab wie Querschläger an einer Wand. Erst jetzt erkannte Tom das volle Ausmaß des Schadens. Die Räder waren aus ihren Aufhängungen gerissen worden und standen schräg. Die gesamte Front hatte sich nach oben geknickt und war dann seitlich weggebogen. Das Dach fiel in einem schrägen Winkel zur Seite ab. Selbst die Schweller waren verzogen. Nichts schien auch nur annähernd dort zu sein, wo es normalerweise hingehörte.
»Eigentlich müsste ich tot sein«, keuchte er beim Anblick dieses völlig deformierten Wracks unwillkürlich. Es schien nahezu unmöglich, einen solchen Sturz fast unbeschadet zu überstehen. Er spürte, wie die Kraft langsam in seinen Körper zurückkehrte und den Schock verdrängte. Vorsichtig versuchte er aufzustehen, doch sein Gleichgewichtssinn war noch immer völlig durcheinander und ließ ihn heftig schwanken, so dass er sich an dem Autowrack abstützen musste. Erst nachdem sich auch das Schwindelgefühl gelegt hatte, betrachtete er seine Umgebung. Das Ufer verlief an dieser Stelle parallel zu dem höher gelegenen Waldweg, der in die Zufahrt zum See mündete, durch die hohen Bäume jedoch nicht einzusehen war. Allerdings näherte sich von dort bereits das Heulen einer Sirene, wie Tom mit wachsender Anspannung feststellte. Er musste sich beeilen, denn seine Chancen standen ohnehin denkbar schlecht.
Entschlossen setzte er sich in Bewegung und lief an dem kiesigen Ufer entlang. Ungefähr fünfzig Meter trennten ihn von der Zufahrt. Als er dort angelangt war, klang das Heulen der Sirene bereits bedrohlich nahe. Nur wenige Sekunden bevor der Streifenwagen das Ufer erreichte, schlug Tom einen Haken und tauchte im dichten Gehölz der Böschung unter. Die Sirene schmerzte in seinen Ohren, als der Wagen vorbeiraste. Tom erkannte die Beule an der Stoßstange. Es war derselbe Polizeiwagen, der ihm vor dem Unfall entgegengekommen war. Im Innern des Fahrzeuges konnte er zwei Gestalten ausmachen. Er ging von mindestens zwei weiteren Einheiten aus, die mittlerweile bestimmt sein Haus erreicht hatten. Erst als sich das Sirenengeheul entfernte und kurz darauf ganz verstummte, sprang er auf und kletterte weiter die Böschung hinauf.
Auf dieser Talseite war das Gefälle deutlich weniger steil und zudem nur halb so hoch, was ihm den Aufstieg erleichterte. Allerdings war der Hang hier auch wesentlich dichter bewachsen. Farne, mannshohe Sträucher und die knorrigen Stämme einiger Bäume bildeten ein verfilztes Dickicht, das ihm zwar ausreichend Deckung bot, in dem er jedoch nur schwer vorankam. Der Untergrund war vom Regen durchweicht und matschig, was ihn zusätzliche Kraft kostete. Er war bis auf die Haut durchnässt, und seine Kleider waren schmutzig und schwer wie eine Bleiweste. Hinzu kam, dass er solche Anstrengungen nicht gewohnt war und immer wieder kleinere Verschnaufpausen einlegen musste. Am meisten aber beunruhigte ihn sein Bein, in dem der ziehende Schmerz über das Knie bis in die Hüfte hinauf ausstrahlte. Bei dieser Belastung würde es schlimmer werden, das wusste er. So war es nur eine Frage der Zeit, bis er würde aufgeben müssen.
Vielleicht sollten Sie es mal mit einer anderen Strategie als mit Flucht versuchen, rief er sich die Worte von Dr. Westphal ins Gedächtnis. Er hätte verdammt noch mal auf ihre Hilfe vertrauen sollen. Stattdessen hatte er sich wieder einmal zur Flucht entschlossen und dabei auch noch sein Leben riskiert. Dieses Mal jedoch war er nicht nur auf der Flucht vor sich selbst und seiner Vergangenheit. Das hier war sein ganz realer Alptraum, aus dem es kein Erwachen gab. Und er würde die Konsequenzen tragen müssen, denn jetzt führte kein Weg mehr zurück. Wie ein gehetztes Tier würde er sich im Wald verkriechen müssen, bis sich die Lage beruhigt hatte. Aber selbst wenn ihm das gelang, was dann? An wen konnte er sich wenden? Wem konnte er noch vertrauen? Seine Situation war mehr als aussichtslos, und allmählich fragte er sich, weshalb er das alles auf sich nahm.
Weil du seit
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