Stigma
sich seiner Verantwortung zu entziehen. Und nun stand er hier durchnässt und verdreckt auf einem holprigen Waldweg, und seine Verantwortung holte ihn in Gestalt der Sirene ein, die erneut vom Ufer her ertönte, sich der Zufahrt näherte und damit sämtliche Fluchtwege blockierte. Er konnte weder vor noch zurück.
Dann hörte er das Geräusch. Der tosende Wind und die Sirene hatten ihn halb taub gemacht, so dass er das dumpfe Röhren zunächst nicht wahrnahm. Doch dann schwoll es an wie das Donnergrollen eines Gewitters, das rasend schnell auf ihn zukam. Und als er sich schließlich danach umdrehte, hatte es ihn schon fast erreicht.
Tom fuhr erschrocken zusammen, als der Wagen mit blockierenden Reifen neben ihm zum Stehen kam. Und seine Verwunderung steigerte sich noch, als er erkannte, dass es kein Polizeifahrzeug war. Die Beifahrertür flog auf, und Tom blickte in das grinsende Gesicht seines Freundes Fanta.
»Na los, Alter, steig ein!«
Tom glotzte ihn an. So, wie man vermutlich einen Außerirdischen anstarren würde, der ohne Vorwarnung vom Himmel gefallen war.
»Was ist?«, rief Fanta. »Willst du erst noch deine Mutter anrufen?«
»Bleiben Sie stehen, oder ich bin gezwungen zu schießen.«
Sein Verfolger hatte den Rand des Abhangs fast erreicht, und Tom konnte erkennen, wie er nach seiner Pistole griff, während er gleichzeitig versuchte, auf dem schmierigen Untergrund der Böschung das Gleichgewicht zu halten.
»Jetzt mach schon!«, riss Fanta ihn aus seiner Lethargie.
Ohne weiteres Zögern stürzte Tom auf den Wagen zu und sprang hinein. Noch ehe er die Tür geschlossen hatte, heulte der Motor des Mustang auf, und sie rasten davon.
»Wo zum Teufel kommst du denn jetzt her?«, stieß Tom hervor, dessen Dankbarkeit über Fantas plötzliches Auftauchen in blankem Erstaunen fast völlig unterging.
»Gern geschehen«, erwiderte Fanta nur und grinste Tom an. »Ich bin auch froh, dich zu sehen.« Er trug ein gelb-orange-farbenes Hemd, dessen Muster an eine Tapete aus den frühen Siebzigerjahren erinnerte.
»Lass die Späße«, wehrte Tom ab. »Diesmal ist es ziemlich ernst! Und ich will dich da nicht auch noch mit reinziehen.«
»Tja, ich schätze, dafür ist es jetzt zu spät. Kopf runter!«
Sie hatten nun die Stelle erreicht, wo der Weg in die Asphaltstraße überging. Tom konnte gerade noch erkennen, wie ein weiterer Wagen der Polizei in die Zufahrt zu seinem Grundstück einbog. Dann rutschte er auf dem Sitz hinunter, damit man ihn nicht sehen konnte.
Fantas Blick war starr auf die nasse Straße geheftet, wobei er den Rückspiegel im Auge behielt, als sie die Zufahrt hinter sich ließen und an der Gaststätte vorbeirasten. Kurz bevor die Straße steil abknickte und in die Stadt hinabführte, lenkte Fanta den Wagen nach links auf einen holprigen Feldweg, der zu einer großen Lichtung führte.
»Was hast du denn vor?«, wollte Tom wissen, der sich wieder in den Sitz hochzog.
»Trotz unseres kleinen Vorsprungs halte ich es für ratsamer, nicht die Hauptstraße zu benutzen«, meinte Fanta, während er den Wagen geschickt über die Unebenheiten des Weges lenkte, ohne dabei merklich Gas wegzunehmen.
»Mich wundert es sowieso, dass wir so wenig Probleme haben«, sagte Tom. »Ich hatte eigentlich gedacht, der ganze Bereich wäre längst abgeriegelt.«
Fanta warf ihm einen kurzen fragenden Blick zu, während er mit dem wild ausschlagenden Lenkrad kämpfte. »Was hast du angestellt, deine Seelenklempnerin kaltgemacht?«
»Nicht ganz«, entgegnete Tom kleinlaut. »Sie liegt bloß bewusstlos in meinem Keller.«
Fanta schielte abermals zu ihm herüber. »Dann war das wohl ihr Auto, das du da unten am See atomisiert hast.«
Tom nickte.
»Hm«, meinte Fanta nur und wich geschickt einer weiteren Bodenwelle aus. »Erinnere mich daran, dass ich dich nie wieder zu einer Therapie überrede.«
Sie rasten an einigen leeren Pferdeweiden vorbei, die vereinzelt von Apfelbäumen gesäumt wurden. Tom stockte der Atem, als er hinter einem der knorrigen Stämme das Gebäude am Horizont aufragen sah.
»Halt an!«, befahl er augenblicklich.
»Spinnst du?«, fragte Fanta erstaunt. »Was glaubst du, was das hier ist, ’ne Stadtrundfahrt?«
»Stopp!«
Die Räder des Mustang rutschten über den aufgeweichten Boden, der teilweise mit Gras überwuchert war, bis der Wagen nach etlichen Metern zum Stehen kam.
Tom starrte gebannt aus dem Seitenfenster. Über den rechten Ausläufern der Lichtung erhoben sich die Umrisse
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