Stigma
verschwunden war. Und sie vermittelte ihm den sehr deutlichen Eindruck, auf eine blaugraue Wand zuzurasen, die mit Lichtgeschwindigkeit näher kam. Die Scheibenwischer rasten über das Glas, hatten erhebliche Mühe, die Regenmassen zu bewältigen, die darauf einprasselten. Durch die erschwerte Sicht brauchte Tom einige Schrecksekunden, um zu begreifen, dass es keine Wand, sondern ein Streifenwagen war, der da auf ihn zukam.
Er schrie auf. Erschrocken riss er die Hände hoch, die eben noch das Lenkrad gehalten hatten. Sein Entsetzen steigerte sich noch, als er auf die Geschwindigkeitsanzeige starrte.
»Großer Gott!«
Es fiel ihm schwer, zu begreifen, was hier geschah. Er saß tatsächlich am Steuer dieses Wagens und raste mit über achtzig Sachen den schmalen Waldweg entlang, der von seinem Haus wegführte. Und hielt dabei geradewegs auf einen Streifenwagen zu, der ihm mit Blaulicht und Sirene entgegenkam und ihm den Weg versperrte.
Es waren nur wenige Augenblicke vergangen, seit er den Zündschlüssel gedreht hatte, dessen war er sich sicher. Dennoch befand er sich plötzlich an der Ausfahrt zur Straße, als hätte er einen Zeitsprung vollzogen. Und es hatte den Anschein, als hätte er den Wagen bis eben so routiniert beherrscht wie jemand, der schon seit Jahren damit vertraut war.
Ihm blieben noch etwa zwei Sekunden, um darüber nachzudenken.
Der schmale, abfallende Weg bot zu beiden Seiten hin keinerlei Ausweichmöglichkeit. Rechts von ihm erhoben sich die bewaldeten Flanken der Talwand, die sich bis zu seinem Haus erstreckte. Auf der linken Seite wiederum fiel das Gelände neben dem Weg etwa vierzig Meter steil zum Seeufer ab. Aus Toms Beinen schien jede Kraft gewichen zu sein, als er ungelenk auf die Pedale eintrat. Sein rechter Fuß verkantete sich, rutschte ab und traf den Gashebel, der keinerlei Widerstand bot. Die Automatik schaltete herunter und ließ den Motor aufheulen wie ein tollwütiges Tier, dessen ungezügelte Kraft ihn ruckartig in den Sitz presste, während der Wagen noch schneller auf das Hindernis zuraste.
Noch drei Meter!
Instinktiv riss Tom das Steuer herum. Der Wagen brach nach links aus und streifte die Stoßstange des Polizeiwagens. Dann wurde Tom in seinen Gurt geschleudert, als der Volvo das grüne Metall der Absperrung durchbrach, die den Weg auf dieser Seite begrenzte. Pfosten wurden weggeschleudert, Drahtgitter kratzte mit einem widerlich durchdringenden Geräusch an den Seitenverkleidungen entlang, das dem Schrei einer Katze glich. Die Äste vereinzelter Sträucher, die hinter der Absperrung in den Abhang hineinwuchsen, streiften über den Unterboden, schlugen gegen Auspuff und Benzintank, bevor sie knisternd wegbrachen. Dann war einige Sekunden lang nur das Heulen des Motors zu hören, als die Reifen den Bodenkontakt verloren und über den Rand der Böschung hinausschossen. Wie in Zeitlupe neigte sich die Motorhaube des Wagens nach vorn und gab Tom die Sicht in den Abgrund frei, in den er stürzte.
Mit aller Kraft stemmte er die gestreckten Arme gegen das Lenkrad, als die Front des Volvo sich in den vom Regen aufgeweichten Abhang grub. Dreck und Moos spritzten auf, klatschten auf die Frontscheibe – die durch den Aufprall an mehreren Stellen Risse bekam – und wurden sofort von den Wischblättern verschmiert, die wild hin und her schlugen, als wollten sie ihr Revier verteidigen. Wieder wurde Tom in den Gurt gepresst, der schmerzhaft in seine Brust schnitt und ihm die Luft aus der Lunge presste. Sein Kopf schleuderte haltlos nach vorn, wurde aber mehr oder weniger sanft von dem großen Airbag aufgefangen, der sich explosionsartig vor seinen Augen entfaltete. Die Stoßdämpfer ächzten unter der Wucht des Aufschlags, doch der Wagen stabilisierte sich wieder, als die Hinterräder den Boden berührten. Tom wurde in die Höhe geschleudert, und diesmal verhinderte der Gurt, dass sein Kopf gegen das Wagendach krachte.
Der Aufprall hatte die Fahrt des Wagens gebremst, der nun jedoch durch das steile Gefälle sofort wieder an Geschwindigkeit gewann. Der Airbag sank nur langsam in sich zusammen, und Tom drückte ihn nach unten, so dass die Luft daraus entwich und er das Lenkrad wieder sehen konnte. Sofort versuchte er, es zu fassen zu bekommen, doch es ruckte so wild hin und her, dass es ihm die Hände wund schürfte, während der Wagen immer schneller den holprigen Abhang hinunterrollte. Dessen oberer Teil war wegen des steilen Gefälles nur spärlich bewachsen. Lediglich einige
Weitere Kostenlose Bücher