Stigma
annähernd dreizehn Jahren ein Gefangener deiner Ängste bist, lautete die Antwort. Und es ist endlich an der Zeit, auszubrechen!
Als er das obere Drittel des Abhangs erreicht hatte, hielt er erschöpft inne und rieb sein schmerzendes Bein. Seine Augen schweiften über das diesige Tal und den See. An einem normalen Sommertag hätte er diesen Anblick sicher genossen, doch unter den jetzigen Bedingungen wirkte er nur düster und beklemmend.
Plötzlich hörte er ein Geräusch.
Durch das Fauchen des Windes hindurch hätte er nicht sagen können, woher es gekommen war, doch er hatte es eindeutig gehört. Sofort duckte er sich. Schlammige Erde saugte sich am Stoff seiner Jacke und seines T-Shirts fest und machte sie noch schwerer. Toms Augen tasteten das Gelände unter ihm ab wie zwei Scanner, die jedes noch so winzige Detail zu erfassen versuchten. Doch durch das dichte Blattwerk hindurch war kaum etwas zu erkennen.
Es war nur der Sturm, nichts weiter, versuchte er sich zu beruhigen. Wieder schaute er nach oben, in Richtung des Waldweges. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, trommelte auf die Blätter der Büsche und Sträucher ein wie Geschosse, die daran abprallten und ihre nassen Splitter über ihn verteilten. Dann erstarrte Tom jäh, als er unmittelbar über sich, etwas seitlich versetzt, neben dem dicken Stamm eines Baumes eine Gestalt entdeckte. Das hohe Dickicht schränkte sein Sichtfeld stark ein. Doch nur wenige Schritte entfernt konnte er ganz deutlich das Gesicht eines Mannes erkennen, der dort reglos am Rande des Abhangs stand wie eine unheimliche Statue. Und dieser Mann blickte mit derselben grimmigen Teilnahmslosigkeit auf ihn herab, wie er es vor zwei Stunden in seinem Garten getan hatte. Dicke Regentropfen liefen an den Gläsern seiner Brille hinab, so dass seine dunklen Augen verzerrt erschienen und noch undurchsichtiger wirkten.
Tom spürte, wie sein Herz gegen den schlammigen Untergrund hämmerte. Er hätte schwören können, dass es dort einen Abdruck hinterließ.
Der Mann stand regungslos da und beobachtete ihn wie ein Ausbilder, der seinen Rekruten beurteilt. Tom fragte sich, ob er ihn damit einschüchtern wollte. Wenn ja, gelang ihm das auf eindringliche Weise. Aber was sollte das alles? Wollte er ihm am Ende helfen? Oder war er dafür verantwortlich, dass die Leiche eines vierjährigen Mädchens in seinem Keller lag?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Tom stemmte sich hoch und grub die Hände in den schlammigen Abhang, um sich auf die Beine zu ziehen. Im selben Moment wandte sich die Gestalt ab und verschwand in Richtung des Waldwegs.
»Warten Sie!«, schrie Tom verzweifelt, auf die Gefahr hin, seine Verfolger damit auf sich aufmerksam zu machen. Sein Fuß rutschte weg und löste einen dicken Erdklumpen, der die Böschung hinunterrollte und dabei in kleinere Brocken zerfiel, die sich im dichten Geäst verfingen. Hastig kam er auf die Füße und kämpfte sich weiter den Hang hinauf. Kurz darauf hatte er den Rand des Abhangs erreicht, wo er sich völlig erschöpft und durchnässt gegen den Baum lehnte, neben dem eben noch der Fremde gestanden hatte. Doch von dem Mann war keine Spur zu sehen. Genau wie in seinem Garten hatte er sich auch hier scheinbar in Luft aufgelöst.
Das war keine Einbildung, sagte er sich verbissen. Der Kerl hat hier gestanden, und ich werde ihn verdammt noch mal finden und sämtliche Antworten aus ihm rausprügeln, wenn es sein muss!
Er kniff die Augen zusammen und folgte mit dem Blick dem Verlauf des Weges bis hinauf zu der asphaltierten Straße. Doch es war nichts zu sehen außer ein paar Pfützen, auf deren Oberfläche der Regen tanzte.
Verdammter Mistkerl, fluchte er stumm in sich hinein. Dann vernahm er hinter sich das Knacken von Zweigen.
»Polizei, bleiben Sie stehen!«
Ein Gefühl vollkommener Ohnmacht übermannte Tom, lähmte ihn. Die Schutzhülle aus Anspannung, die seine Ängste und Schmerzen besiegt und ihn bis zur völligen Erschöpfung vorangetrieben hatte, fiel wie ein alter rostiger Panzer von ihm ab, und an ihrer Stelle senkte sich die Last der Resignation auf seine Schultern herab. Es ist vorbei war sein erster Gedanke, als er langsam den Kopf drehte und den Polizisten erblickte, der ihm den Abhang hinauf gefolgt war. Und im selben Moment wurde ihm klar, dass es nie richtig begonnen hatte. Er hatte von Anfang an nicht die geringste Chance gehabt, war wie ein verängstigtes Kind in den Wald gelaufen, um sich dort zu verkriechen und
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