Stigma
eines Daches. Beinahe verloren sich die Konturen in dem nebligen Grau des Unwetters, und das Gebäude war vor dem diesigen Hintergrund nur undeutlich zu erkennen. Trotzdem fiel Tom die Veränderung daran auf, die seit seinem letzten Besuch dort stattgefunden hatte. Die Dachziegel wiesen deutliche Lücken auf, die wie dunkle, unheilvolle Augen in den tief hängenden Himmel starrten. Teile des vorderen Giebels waren eingebrochen, so dass die gesamte Konstruktion in einem unnatürlich schrägen Winkel nach vorn geneigt war. Beinahe hatte es den Anschein, als wolle sich das alte Gemäuer den Kräften des Sturms entziehen, indem es ihm weniger Angriffsfläche bot.
»Ist das nicht das Haus, bei dem die Leiche gefunden worden ist?«, erkundigte sich Fanta.
»Ja«, erwiderte Tom geistesabwesend. »Es zerfällt.«
»Tja«, meinte Fanta, »bei dem Sturm wundert es mich ehrlich gesagt, dass es nicht längst dem Erdboden gleich ist. Diese alten Mauern sind widerstandsfähiger, als ich dachte.« Er lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz. »Ist aber nur noch eine Frage der Zeit, wenn du mich fragst.«
Tom nickte zustimmend. Nur noch eine Frage der Zeit, wiederholte er in Gedanken und fügte hinzu: bis es sein Geheimnis preisgibt!
»Tom, wir müssen weiter«, drängte Fanta. »Unser Vorsprung ist eh schon verdammt knapp.«
Er hörte die Stimme seines Freundes, doch die Worte drangen nicht zu ihm durch. Wieder hatte ihn diese morbide Faszination gepackt, in der Angst und Hoffnung zugleich mitschwangen.
»Tom?«
»Ja«, antwortete er schließlich und löste sich nur widerwillig von dem Anblick. »Lass uns von hier verschwinden.«
Nach einer Weile wurde der Weg besser, bis er schließlich wieder in Asphalt überging. Der Wald lichtete sich nun auf beiden Seiten, und sie fuhren an weiten Feldern und Wiesen vorbei, die sich beinahe bis zum Horizont erstreckten. Bereits nach wenigen Hundert Metern mündete der Weg in eine breite Landstraße, die nach Nordosten aus der Stadt führte. Zu Toms Verwunderung lenkte Fanta den Wagen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Mithilfe etlicher Nebenstraßen umfuhr er den Stadtkern, bis sie schließlich einen Kreisverkehr erreichten. Dort angekommen nahm er die zweite Abfahrt, die zur Autobahn führte.
»Wo willst du hin?«, fragte Tom.
»Ich will mir nur einen besseren Überblick verschaffen.«
Kurz vor der Stelle, wo die Straße zur Autobahn hin abknickte, bog Fanta nach links auf einen Weg ab, der sich serpentinenartig auf eine Erhebung schlängelte und an einem weitgehend unbebauten Landstrich etwas oberhalb der Stadt endete. Auf einem schmalen Schotterweg brachte er den Wagen schließlich im Schutz einiger dichter Büsche zum Stehen. Das Fauchen des V8-Motors erstarb.
»Ich denke, hier sind wir erst mal unbehelligt«, stellte Fanta fest.
Tom blickte sich um. Trotz des schlechten Wetters konnte man von hier große Teile der Stadt überblicken, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Nicht der schlechteste Standort, wenn man sich »einen besseren Überblick« verschaffen wollte, wie er zugeben musste.
»Ich kenne diese Stelle«, sagte Tom, nachdem er sich orientiert hatte. Links von ihnen erstreckte sich ein breites Wiesengrundstück, das weiter oben an das alte Sportstadion grenzte. »Ich bin als Kind öfter hier gewesen. Meine Großeltern und ich haben hier manchmal gepicknickt.«
»Tja, ich schätze, heute ist das hier eher ein beliebter Ort für ein Schäferstündchen«, meinte Fanta augenzwinkernd. »Aber keine Angst, ich habe nichts dergleichen mit dir vor.« Wieder dieses verschmitzte Grinsen.
»Na schön«, sagte Tom und entspannte sich ein wenig. »Und was jetzt?«
»Jetzt wirst du mir ausführlich erzählen, was genau passiert ist.«
Als Tom geendet hatte, zog Fanta die Augenbrauen hoch und pfiff leise durch die Zähne. »Alle Achtung, mein Freund, du verstehst es wirklich, dich in die Scheiße zu reiten.«
»Aber ich habe niemanden umgebracht, weshalb sollte ich das auch tun? Das Ganze ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.«
Fanta begutachtete ihn einige Sekunden lang schweigend. »Ich glaube dir«, sagte er schließlich. »Ich kenne dich besser, als dir bewusst ist. Zu so was wärst du nicht einmal imstande, wenn du dir hundert Persönlichkeiten einbilden würdest.«
Nun war es Tom, der ihn eingehender betrachtete. »Tja, mit dieser Meinung dürftest du im Moment ziemlich allein dastehen. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich mir diese Geschichte nicht
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