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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Vorsprungs, der auf der gegenüberliegenden Seite des Wiesenstücks emporragte wie die Wand eines Kraters, als hätte eine gigantische Schaufel das Erdreich davor abgetragen. Das brachliegende Gelände darüber war von Gras und Büschen überwuchert, die sich zu einem dichten grünen Geflecht verstrickten. In der Senke dahinter konnte man die ersten Ausläufer eines entfernten Wohngebietes erkennen.
    »Babs und ich sind oft da raufgeklettert.« Toms Tonfall veränderte sich, hatte nun etwas Entrücktes. »Von dort hat man eine tolle Sicht auf die Siedlung. Wir haben diese Stelle immer unseren Wintergarten genannt, und wir haben oft Stunden dort im Gras gelegen und gelesen oder uns über Bücher unterhalten. Sie war genau so eine begeisterte Leserin wie ich. Und sie ist bis heute der einzige Mensch, mit dem ich diese Leidenschaft teilen konnte.« Er hielt einen Moment inne, nachdem er diese Erinnerung losgelassen hatte. »Kaum zu glauben, aber das alles kommt mir plötzlich wieder so vor, als wäre es erst gestern gewesen«, meinte er und lächelte Fanta befangen an. Mühsam würgte er ein heiseres »Danke« hervor.
    »Wofür?«
    »Dass du mich hierhergebracht hast. Es ist, als dürfte ich das alles noch einmal erleben. Langsam wird mir klar, wie einsam ich im Grunde all die Jahre gewesen bin.«
    Sie gingen noch ein Stück weiter, bis sie schließlich unter dem Fenster standen, das erste von insgesamt sieben, die in jedem Stockwerk identisch übereinander angeordnet waren.
    Tom starrte die weißen Gardinen dahinter an, die ihm den Blick ins Innere verwehrten. »Mann, ich würde was dafür geben, wenn ich da noch einmal reinschauen dürfte.«
    Fanta trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. »Ich würde dir ja gerne dabei helfen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dahinter etwas verbirgt, was uns weiterbringt.«
    Tom sah ihn einen Moment lang verwirrt an. Er schien fast vergessen zu haben, weshalb sie hierhergekommen waren.
    »Ich will dir deine Heimkehr ja nicht vermiesen«, meinte Fanta, »aber wir sind immer noch keinen Schritt weiter, und in nicht einmal zwei Stunden ist es dunkel. Wir sollten uns ein bisschen beeilen.«
    »Ja, du hast recht«, räumte Tom ein wenig enttäuscht ein. »Aber wie stellst du dir das eigentlich vor? Ich kann so etwas nicht erzwingen. Es muss einfach … passieren.«
    »Was löst denn üblicherweise so was aus?«
    »Assoziationen«, antwortete Tom. »Dinge, die unmittelbar mit den Vorfällen von damals in Verbindung stehen.«
    »Aber davon muss es hier doch jede Menge geben«, meinte Fanta ungeduldig. »Ein bestimmter Gegenstand vielleicht, oder ein Ort, ein Name … denk nach!«
    Plötzlich durchfuhr Tom ein Ruck. »Kern«, sagte er wie vom Blitz getroffen.
    »Wer?«
    »Der Name auf einer von den Türklingeln.«
    »Und, was ist damit?«
    »Das ist der Name des Mädchens, das man bei dem alten Gebäude gefunden hat. Franziska Kern. Dass mir das nicht gleich aufgefallen ist.«
    »Das kann ein Zufall sein.«
    Tom schüttelte den Kopf. »Nein, was diese Geschichte angeht, glaube ich nicht mehr an Zufälle. Wer auch immer das alles inszeniert hat, wollte, dass ich hierher zurückkomme. Er hat von Anfang an eine Verbindung zu diesem Ort hier hergestellt.«
    »Dann ist es allerdings eine Verbindung, die uns in keiner Weise hilft«, wandte Fanta ein. »Das Mädchen war damals doch noch gar nicht auf der Welt.«
    »Nein«, stimmte Tom zu. »Aber es gibt hier eine andere Verbindung, die uns todsicher weiterbringen kann.«
    Er atmete tief durch. Nur widerwillig schwenkte sein Blick vom Fenster seines Zimmers zur gegenüberliegenden Seite. Dort, in einiger Entfernung, wirkten die vereinzelten Häuser eines kleinen Wohngebietes mit ihren farbigen Dächern und gepflegten Vorgärten wie eine Oase, die sich eisern gegen die architektonische Tristesse der Hochbauten stemmte, von denen sie flankiert wurde. Etwas links von der Mitte erkannte er vage Ralfs Elternhaus. Es war nur ein Punkt innerhalb vieler Punkte und lag unmittelbar an der Hauptstraße, die sich zu kleineren Nebenwegen oder Zufahrten verästelte. Noch immer waren vereinzelt Lücken zwischen den Bauten, die als Platzhalter fungierten. Ingo hatte im hinteren Teil gewohnt, wo die Häuser dichter standen. Mehrere große Apfelbäume säumten das Gebiet auf der rechten Seite, trennten es wie ein natürlicher Zaun von den weiter hinten gelegenen Großstadtbauten ab.
    Tom runzelte bei diesem Anblick irritiert die Stirn.

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