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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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unvorstellbar abstoßend, so grauenhaft, dass er schauderte. Nein, das kannst du nicht von mir verlangen, wehrte er stumm ab. Und plötzlich hatte er den Eindruck, hinter diesen glasigen Augäpfeln etwas aufblitzen zu sehen, als kommunizierten sie auf einer höheren Ebene mit ihm. Du musst!, schienen die Augen zu sagen. Du hast keine andere Wahl!
    Ein erbärmliches Wimmern kroch aus seinem Mund. Er fühlte sich unendlich müde, wollte sich nur noch zusammenrollen und die Augen schließen, wollte diese schrecklichen Bilder ausblenden, in der Hoffnung, nie wieder zu erwachen. Tränen der Verzweiflung liefen seine Wangen hinab, als er sah, wie der Wächter sich in Bewegung setzte. Mit langsamen, beinahe mechanischen Schritten kam er auf ihn zu.
    Los!
    Nein!
    Doch! Du kannst mir nicht mehr wehtun, also tu es gefälligst!
    Die Polizei ist da. Lass uns noch warten, nur noch zwei Sekunden.
    Du hast keine zwei Sekunden mehr. TU ES !
    Obwohl sich alles in Tom dagegen sträubte, packte er mit einer Hand den vorderen Rand des Schrankes und verlagerte sein Gewicht auf das unverletzte linke Bein. Die andere Hand stemmte er gegen die Wand. Dann nahm er so viel Schwung, wie er konnte –
    Gott, ich hasse dich!
    – und sprang ab. Und es war, als hätte er etwas in sich getötet, als hätte er eine Grenze überschritten, die keine Rückkehr mehr zuließ. Er hatte die Demütigungen ertragen, die Angst und die Schmerzen. All das hätte er verkraftet, hätte es mit der Zeit verwunden. Doch für das, was nun folgte, hasste er sich selbst und die Welt, die es ihm abverlangte, so sehr, dass es ihn innerlich zerfraß wie reine Salzsäure.
    Er hörte das widerlich schmatzende Geräusch, als Susannas aufgeweichter Schädel barst, spürte den glitschigen Matsch aus Gewebe und Gehirnmasse, der sich unter seinen nackten Fußsohlen gallertartig ausbreitete, und schrie vor Scham und Ekel auf. Verzweifelt bemühte er sich, nicht hinunterzusehen, hielt die weinenden Augen fest geschlossen, um dieses Bild nicht in sein Inneres eindringen zu lassen. Er geriet ins Straucheln, wäre beinahe ausgerutscht. Doch es gelang ihm unter Qualen, das Gleichgewicht zu halten und sich erneut abzustoßen. Nur reichte diesmal der Schwung nicht aus. Feurige Blitze durchzuckten ihn, als sich fingerdicke Scherben in die dünne Haut seiner Fußsohlen bohrten und sein Blut auf den Boden tropfte. Er zwang sich, nicht zu schreien, empfand diese Schmerzen als gerecht, als eine Art Wiedergutmachung für das, was er gerade getan hatte, was er hatte tun müssen. Doch sie waren nur ein fader Vorgeschmack derer, die folgen sollten. Tom bückte sich, und seine Hand war nur Zentimeter von dem Messer entfernt, als die Brechstange mit der unkontrollierten Wucht des Wahnsinns seitlich gegen sein Schienbein geschmettert wurde und es mit einem abscheulichen hohlen Krachen zertrümmerte.
    All seine bitteren Gedanken erstarben schlagartig, und einen kurzen, wohltuenden Moment lang empfand er eine eigenartige Stille wie kurz nach einer Explosion. Dann knickte sein Bein in einem unnatürlich schrägen Winkel weg, und er sank kraftlos zu Boden. Scherben stachen in sein Fleisch, rissen es auf wie die Zähne eines Raubtieres. Doch er spürte es nicht mehr. Das alles geschah an einem anderen Ort, fernab seiner Wahrnehmung, die nun wieder in diesen rauschartigen Zustand versunken war, dessen dunkler Abgrund ihn lockte. Er sah die trüben Umrisse des Wächters neben sich, eine formlose Erscheinung, mit schlaff herabhängenden Schultern und Augen, die in eine Ferne blickten, die keinen Horizont besaß. Gleich würde er zu einem weiteren Schlag ausholen, würde ihn endgültig in diesen Abgrund stoßen und ihn in ewiger Finsternis versenken. Die Erlösung war jetzt greifbar nahe, er konnte spüren, wie sie ihre sanften Hände nach ihm ausstreckte, und er sehnte sich nach ihrer Umarmung, die alles auslöschen würde.
    Tu es!
    Doch dann hörte er, wie die Stange mit metallischem Klirren neben ihm zu Boden fiel.
    »Das Spiel ist noch nicht vorbei.« Eine Stimme, so leise und monoton wie die eines Erstickenden. »Ich lasse dich am Leben, Tom Kessler.«
    Die Worte trafen Tom wie eine Ohrfeige. Er wollte nicht mehr zurück, er sehnte sich zu sehr nach dem dunklen Abgrund.
    »Ich habe beschlossen, dass es eine schlimmere Strafe für dich gibt«, fuhr die Stimme fort. »Sie werden mich wegsperren, aber ich werde auf dich warten. Ich werde die Tage, Monate und Jahre zählen, bis es so weit ist. Und dann

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