Stigma
seinem Entsetzen hatte sich auch hier so gut wie nichts verändert. Die Bank vor den Rosen, die Hecke, der kleine Springbrunnen, der Bach … alles war noch da, als hätte es jemand für seine Rückkehr so hergerichtet. Nur die Dämmung über dem Kellerschacht und die Grube waren verschwunden.
Tom bog nach rechts ab, lief auf die Vorderfront des Hauses zu und drückte wiederholt auf die Klingel neben der weißen Kunststofftür.
»Mach auf, du Schwein!«, schrie er, während er wie besessen mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte.
Gleich darauf wurde sie geöffnet, und ein Junge von vielleicht zehn Jahren stand auf der Schwelle. Er hielt einen kleinen Ball in der Hand, und seine Augen wurden groß vor Schreck, als er Tom betrachtete. Er musste ihm vorkommen wie ein Wahnsinniger, wie er da schnaufend und mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm stand. Doch das änderte sich augenblicklich, als Tom die rote Baseballkappe sah, die der Junge auf dem Kopf trug. Wie betäubt trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete den Ball in den Händen des Jungen.
Willst du mit mir spielen?, hallte es unaufhörlich durch seinen Kopf. Verzweifelt hielt Tom sich die Ohren zu, versuchte die Stimme zu ersticken. Doch es war vergeblich.
Willst du mit mir spielen?
Er taumelte weiter zurück. Die Welt um ihn herum begann sich plötzlich zu drehen, ließ alles verzerrt und unscharf erscheinen. Er stand am Rande des schwarzen Abgrunds, der sich klaffend vor seinen Füßen auftat. Nur noch ein Schritt, ein winziger Schritt. Seine Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Dann sackte sein Kreislauf weg. Seine Knie gaben nach, und er stürzte in ein dunkles, bodenloses Nichts …
TEIL DREI
Zeit des Erwachens
Am selben Tag
Gegen 22:30 Uhr
D ie Stimmen, die er hörte, hielt er zunächst für die aus seinem Kopf. Sie waren ohne Substanz, so flüchtig wie Benzindämpfe. Dann festigte sich ihr Ton, und sie nahmen Gestalt an. Es waren zwei. Die eine war eine Männerstimme, herb und frech. Sie klang lässig und jugendlich unverbraucht. Die andere Stimme gehörte einer Frau. Ihr Klang war reifer, sensibler und gleichzeitig gebildet, ohne altklug zu wirken. Beide Stimmen unterhielten sich angeregt.
Als Tom die Augen öffnete und sich die Dunkelheit des Abgrunds verflüchtigte, blickte er auf eine hell getäfelte Decke. Sie gehörte zu einem lang gezogenen Raum, an dessen hinterem Ende er vor einer Bücherwand undeutlich einen Schreibtisch ausmachen konnte. Die Stimmen kamen von dort. Etwas zu schnell stemmte er sich von dem cremefarbenen Sofa hoch, auf dem er gelegen hatte, und wurde abermals von jenem Schwindelgefühl heimgesucht, das die Welt um ihn herum zu einem rotierenden Kreisel werden ließ. Stöhnend ließ er sich wieder auf das Sofa sinken.
Das Gemurmel im Hintergrund verstummte schlagartig.
»Tom?«, hörte er die Frauenstimme sagen. »Sieht aus, als wäre er zu sich gekommen.«
»Alles klar, Kumpel?« Fanta klang plötzlich so nah, dass Tom erschrak. »Hast mir ziemliche Sorgen gemacht, Alter.«
Tom krächzte seine belegten Stimmbänder frei. »Wo … wo sind wir?«
»In meiner Wohnung, über der Praxis«, antwortete Dr. Westphal, und Tom sah, wie sie sich über ihn beugte. Sie trug noch immer das dunkelbraune Kostüm. Auf ihrer Stirn prangte ein handtellergroßes Pflaster. »Sie hatten einen Zusammenbruch. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung gegeben, deshalb fühlen Sie sich vielleicht ein bisschen schwach.«
Tom starrte sie unsicher an. Immer wieder suchte sein Blick nach Fanta, kehrte dann aber wieder zu der Ärztin zurück. Wieder versuchte er aufzustehen, doch es gelang ihm lediglich, sich aufrecht hinzusetzen.
»Wie lange war ich weg?«
»Ein paar Stunden.« Ihre Stimme klang wie immer besonnen. Für seinen Geschmack etwas zu besonnen, nach allem, was geschehen war. »Ganz ruhig, Tom. Es ist alles in Ordnung.«
»Was …? Wie bin ich hierhergekommen?«
»Na ja«, meinte Fanta mit seiner üblichen Gelassenheit, »nachdem du wie eine aufgescheuchte Wildsau durch diesen Garten getobt bist, den Leuten dort eine Heidenangst eingejagt und schließlich mit verdrehten Augen vor ihnen den Abgang gemacht hast, hat es mich einiges an Überredungskunst gekostet, sie davon zu überzeugen, dass du kein völlig durchgeknallter Serienmörder bist. Ich konnte sie schließlich davon abhalten, einen Krankenwagen zu rufen, indem ich behauptet habe, du hättest nur einen über den Durst
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