Stigma
werde ich dir das wegnehmen, was du mir genommen hast. Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist.«
Ein dumpfer Schlag drang von oben in den Kellerraum. Dann splitternder Kunststoff. Metall, das auf den Boden schlug. Schritte, laute Stimmen.
Tom hörte das alles. Doch es löste keinerlei Empfindungen in ihm aus. Sein Verstand hatte sich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verkrochen, in ein mentales Flüchtlingslager, an dessen schützenden Mauern sämtliche Einflüsse von außen abprallten. Regungslos lag er da, inmitten von Scherben und totem menschlichem Gewebe, und starrte mit Augen, aus denen sämtliches Bewusstsein gewichen war, an die graue Kellerdecke. Er sah nur den dunklen Abgrund, in den er fiel, dessen Ende aber unerreichbar blieb. Ein schwereloser Zustand im Zwischenreich der Existenz, wo sämtliche Schreie verstummten …
»Tom!«
Fantas Stimme war nur ein fernes Echo aus einer anderen Welt.
»Tom, hörst du mich?«
Er konnte den Ruck förmlich spüren, mit dem er in diese andere Welt zurückkatapultiert wurde. Feuchtes Gras kitzelte seine Wangen, während seine Hände auf etwas einschlugen, das sich über ihm befand. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass es Fantas Arme waren, auf die er eintrommelte und die ihn eisern zu Boden pressten. Jäh entspannte er sich.
»Bist du wieder bei mir, Kumpel?«
Tom nickte betäubt. »Was ist passiert?«
»Du bist plötzlich weggekippt und wurdest von Krämpfen geschüttelt. Ich dachte schon, du hättest einen epileptischen Anfall oder so was.«
»Nein, alles in Ordnung.«
Der Zug der Vergangenheit entfernte sich und ließ ihn in der Gegenwart zurück wie einen Gestrandeten, der sofort von ihr heimgesucht wurde.
»Meine Familie!« Ruckartig setzte er sich auf. Seine kraftlosen Hände packten Fanta am Hemdkragen und zogen ihn zu sich herunter. »Der Scheißkerl ist hinter meiner Familie her!«
»Was …? Wer?«
Tom rappelte sich auf. »Der Wächter!«
Fantas Verwirrung grub tiefe Falten in seine Stirn. »Aber ich dachte, der Kerl ist tot.«
»Zumindest sollte er das sein, wenn man den Polizeiakten glauben darf. Aber wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habe ich nicht mitbekommen, wie er gestorben ist. Zu dem Zeitpunkt war ich schon völlig weggetreten.«
»Aber weshalb sollte die Polizei lügen?«
Tom zuckte die Achseln. Dann durchfuhr ihn ein Gedanke wie ein Stromschlag. »Karin! Ich muss sie warnen.« Ohne zu zögern, fingerte er das Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er klappte es auf und tippte nervös ihre Nummer ein.
»Seit wann hast du ein Handy?«, fragte Fanta.
»Das ist nicht meins.«
Fanta stöhnte. »Lass mich raten, das Teil gehört deiner Seelentante. Dir ist doch hoffentlich auch klar, dass man die Dinger orten kann.«
Tom hatte keine Zeit, etwas zu erwidern. Eine Bandansage teilte ihm mit, dass der gewünschte Teilnehmer momentan nicht zu erreichen sei. »Verdammt«, fluchte er. Dann versuchte er es bei Karins Eltern, doch auch dort meldete sich niemand. Nach dem zwanzigsten Läuten gab er verzweifelt auf.
Ein unheilvoller Druck stieg in ihm empor, legte sich eisig um seinen Brustkorb, so dass er in panischer Angst nach Luft rang. Das altbekannte Gefühl der Angst meldete sich zurück, nistete sich in ihm ein wie ein Parasit. Gedanken flogen wie dunkle Schatten an ihm vorüber.
Ich muss zu ihr, muss sie beschützen … und Mark … Er kommt sie holen, er wird sie quälen und foltern, wie er es mit mir getan hat … Alles fängt wieder an … Oh Gott!
»Ganz ruhig, Tom«, beschwichtigte Fanta, der merkte, dass sein Freund zu hyperventilieren begann. »Karin und Mark geht es bestimmt gut.«
»Ich muss sie warnen«, wiederholte Tom atemlos.
Fanta packte ihn fest an den Schultern. »Im Moment kannst du nichts für sie tun, Tom. Also solltest du dich jetzt zuerst um deinen eigenen Arsch kümmern, hörst du?«
Tom stieß ihn wütend von sich weg. »Es geht um meine Familie, Mann! Dir bedeutet das vielleicht nicht viel, aber ich kann ohne sie nicht leben!«
»Ach nein?«, fauchte Fanta zurück. »Sieh dich doch an. Ich finde, du hast auch ohne sie ziemliche Fortschritte gemacht. Sie hat dich verlassen, Tom! Du solltest endlich lernen, deine Fesseln abzustreifen, sonst wirst du niemals frei sein.«
»Frei von was? Von Liebe? Von Zuneigung? Geborgenheit? Ich habe in den letzten Tagen immer wieder versucht, mir einzureden, ich könnte ohne das alles existieren. Aber ich habe mir nur selbst
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