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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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die beiden Beamten richtete. Mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er eine Fernbedienung benutzen, drückte er auf den Abzug. Tom konnte nicht sagen, was ihn mehr erschreckte: das ohrenbetäubende Krachen der Schüsse oder die Kaltblütigkeit, mit der sie abgefeuert wurden. Die beiden Polizisten sackten mit je einem dunklen, fingernagelgroßen Loch in der Stirn leblos zur Seite.
    »Wow!«, schrie Fanta und tänzelte begeistert auf der Stelle. »Mann, war das cool! Ich hätte nie gedacht, dass Schreiben so viel Spaß machen kann!«
    Wie betäubt starrte Tom auf den Lauf der Pistole. Der Schock hatte sich so tief in ihn eingegraben, dass er Mühe hatte, seine Stimme wiederzufinden. »Du … du hast die beiden Mädchen entführt und umgebracht, nicht wahr?«, brachte er hervor, doch es war nur ein kraftloses Flüstern. »Du hast ihnen die Kehlen durchgeschnitten wie Schlachtvieh. Die ganze Zeit über hast du so getan, als wolltest du mir helfen, hast den besten Freund gespielt. Dabei warst du für das alles verantwortlich. Wieso, Stefan?«
    »Du tust etwas, was Schriftsteller nicht tun sollten«, bemerkte Fanta, ohne auf die Frage einzugehen. »Du greifst der Geschichte vor und nimmst ihr die Spannung. Das langweilt und enttäuscht den Leser. Und das wollen wir doch nicht, oder?« Übertrieben lässig ließ er die Waffe um seinen Zeigefinger rotieren. »Konzentrieren wir uns stattdessen lieber auf die wesentlichen Dinge dieser Geschichte und kommen nun zu einer der wichtigeren Personen.« Die Waffe lag wieder fest in seiner Hand, und ihr Lauf zeigte auf Dr. Westphal. »Die Seelentante! Dein wichtigster Ansprechpartner. Sie sorgt für dein seelisches Gleichgewicht, ist Anlaufstelle für alle medizinischen Fragen und gleichzeitig auch eine Art Mutterersatz. Dennoch umgibt sie eine etwas zwielichtige Aura, die den Leser das ein oder andere Mal in die Irre führt. Und wie ich jetzt festgestellt habe, sorgt sie wohl auch ganz nebenbei dafür, dass deine Palme stramm im Wind steht, hab ich recht, Alter?« Er grinste verschmitzt. »Tja, gegen die Hormone ist selbst die Fantasie machtlos.« Er machte einen Schritt nach vorn. »Und dann wäre da noch ihr Sohn Gerrit. Der geheimnisvolle Unbekannte, dessen Identität erst kurz vor Schluss offenbar wird und der scheinbar alle Fäden in der Hand hält.« Er lachte hämisch auf. »Dieser dramaturgische Taschenspielertrick zieht doch tatsächlich immer wieder. Es erstaunt mich jedes Mal aufs Neue, wie leicht der Leser sich damit an der Nase herumführen lässt.« Fanta trat einen Schritt auf Gerrit zu und strich ihm sanft über das Haar. »Fast schon schade um ihn«, sagte er. Es klang beinahe aufrichtig. »Glaub mir, ich hätte dich liebend gerne näher mit ihm bekanntgemacht, denn im wahren Leben ist er gar kein schlechter Typ. Aber wie auch immer, für ihn ist hier leider Endstation.« Er hob die Pistole.
    »Warte!«, schrie Tom und hob abwehrend die Hand. Für ihn ergab dieses Gefasel nicht den geringsten Sinn. Zu dem Schock, der nach wie vor durch seine Glieder sickerte wie feiner Sand, gesellte sich nun noch grenzenlose Verwirrung. Sein bester Freund schien komplett den Verstand verloren zu haben. Und da er Erfahrung mit Verrückten hatte, konnte er sich ausmalen, wohin das Ganze führen würde. Wieder einmal schien es seine Aufgabe zu sein, diesen Wahnsinn zu stoppen.
    »Du hast gesagt, ich könnte nicht frei sein, solange diese Menschen am Leben sind.«
    Fanta nickte.
    »Aber du irrst dich!« Er wollte schon aufstehen und auf ihn zugehen, beschloss dann aber angesichts der Waffe, das lieber bleiben zu lassen. »Ich habe jetzt keine Angst mehr, das weißt du doch«, beteuerte er und versuchte, so gefasst wie möglich zu klingen. »Also brauche ich auch keine Therapeutin mehr. Du siehst also, ich bin nicht mehr länger abhängig von ihr. Und obwohl ich die Gründe dafür nicht kenne, habe ich es ja wohl auch ihr zu verdanken, dass ich hier gelandet bin. Weshalb sollte sie also noch länger wichtig für mich sein?« Ohne Fanta die Möglichkeit eines Gegenargumentes zu lassen, zeigte er hastig auf den jungen Mann neben Dr. Westphal. »Ihren Sohn kenne ich überhaupt nicht. Und ich habe auch nicht die geringste Ahnung, was er überhaupt mit der ganzen Geschichte zu tun hat. Ich habe ihn in meinem ganzen Leben nur zweimal gesehen, und das auch nur für wenige Sekunden. Weshalb sollte er mir also etwas bedeuten?« Sein Blick wurde weich, als er weiter um die Ecke wanderte.

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