Stigma
habe ich also gar keine Frau und keinen Sohn.«
»Im wahren Leben nicht, nein.« Fanta trat neben ihn. »Aber um dorthin zurückzugelangen, musst du sämtliche Brücken hier abbrechen«, sagte er und drückte ihm die Waffe in die Hand.
»Das ist nicht dein Ernst.« Tom erstarrte vor Entsetzen. »Du kannst doch nicht wirklich wollen …«
»Du musst die Illusion zerstören, die dich hier festhält«, sagte Fanta. »Sonst wirst du niemals frei sein.«
»Du verlangst, dass ich sie erschieße?«
»Ich verlange, dass du diese Vorstellung von einer Familie beendest und wieder zu leben anfängst.«
Sein Blick huschte von der Waffe in seiner Hand zu Fanta, dann zu Karin und Mark und wieder zurück zu der Pistole. Er zögerte einen Moment. Dann sprang er vor, drehte sich um und richtete die Waffe entschlossen auf Fanta. »Und was ist, wenn ich das nicht tun will?«
Fanta gab sich unbeeindruckt. »Drück ab«, sagte er kühl, »und du versinkst in ewiger Finsternis.«
Verzweifelt umklammerte Tom die Pistole mit beiden Händen. Schweißperlen liefen an seinen Schläfen herab und kitzelten auf seinen Wangen. Die Anspannung drohte ihn zu zerreißen. »Verdammt!«, stieß er hervor und trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Ich kann nicht … Ich kann das einfach nicht!«
Ohne auf die Pistole zu achten, trat Fanta einen Schritt vor. »Ich kann verstehen, dass es dir schwerfällt«, sagte er mitfühlend. »Das hier war unser größtes Abenteuer, die Geschichte unseres Lebens. Aber jede Geschichte geht einmal zu Ende, Tom. Und dieses Ende hast du jetzt in der Hand.« Er deutete auf die Waffe. »Entscheide dich, ob du weiterleben oder dich für eine Fantasie opfern willst. Es liegt bei dir, mein Freund.«
Tom hob die Waffe. Wieder zielte er auf Fanta, sah ihm dabei in die Augen, deren Blau ihm so vertraut war. Langsam krümmte sich sein Zeigefinger um den Abzug, übte sanften Druck aus. Die Waffe zitterte in seinen Händen, als wolle sie sich wehren, sich verweigern. Mehrere quälend lange Sekunden verstrichen, während die Blicke der beiden aufeinandertrafen, sich abtasteten. Die Stimmen in Toms Kopf schwollen an, drohten ihm die Schädeldecke zu sprengen. Ein wirres Kauderwelsch aus Lauten, die wie elektronische Signale durch seine Wahrnehmung rasten. Nichtssagende Impulse, deren Botschaft ihm verborgen blieb. Doch sie wurden klarer, kristallisierten sich zu Sprache, zu Wörtern und Sätzen. Zunächst nur bruchstückhaft und schwach wie bei einer Antenne, die auf einen fernen Sender ausgerichtet wird. Doch schließlich wurde der Empfang besser, das Signal stärker.
Tom schloss die Augen, konzentrierte sich nur noch auf das, was in seinem Kopf geschah. Er blendete das Dröhnen und den Schmerz aus, filterte sämtliche störenden Elemente heraus, die dieses Feuerwerk begleiteten … und plötzlich hörte er es. Das Fragment eines Satzes, noch weit entfernt, doch klar und verständlich.
»… hat sich bewegt!«
Eine Frauenstimme. Sie klang leise und hohl, fast wie ein Echo aus einer anderen Welt. Doch er konnte sie eindeutig hören. Und er kannte diese Stimme sehr gut!
»Sehen Sie, da!«
Es war die Schreibstimme! Tom erstarrte.
»Ich sage sofort Dr. Clausen Bescheid!«
Eine zweite Stimme, ebenfalls weiblich. Und sie klang so nah, als wäre sie direkt neben seinem Ohr.
Erschrocken riss Tom die Augen auf. Sogleich verblasste das Signal, wurde wieder zu Impulsen, die zu einem Dröhnen verschmolzen.
»Mein Gott!«, flüsterte er. Der Lauf der Waffe senkte sich wie in Zeitlupe. »Es ist wahr.«
Diese Erkenntnis erschütterte ihn wie ein Erdbeben, das alles, woran er geglaubt hatte, in sich zusammenstürzen ließ. Die Säulen, die sein Leben getragen hatten, zerfielen, wurden schlagartig zu Sand zermahlen. Es war, als würde ihm seine Identität gestohlen, als wäre sein gesamtes Dasein eine einzige Lüge. Seine Rückkehr ins Leben, sein Kampf gegen die Angst, der Erfolg als Autor … und nicht zuletzt seine Liebe. Dieses unerschütterliche Gefühl der Verbundenheit. All das war verloren, war auf einen Schlag ausgelöscht. Er war zu Neo in der Matrix geworden, der gerade begriffen hatte, dass seine Welt nur eine Simulation war.
»Es ist so weit, Tom«, sagte Fanta, und in seiner Stimme lag ein Hauch von Wehmut. »Sie warten auf dich, du musst dich entscheiden.«
Tom nickte, während ihm Tränen in die Augen stiegen. Und als er Fanta betrachtete, der lächelnd vor ihm stand, fragte Tom sich, ob er ihm danken
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