Stigma
Zögernd ging sie zurück in die Küche und ließ ihren Mann allein auf der Terrasse zurück.
Das Mittagessen verlief ziemlich wortkarg. Tom saß schweigend da und starrte vor sich hin, während er nachdenklich auf seinem Teller herumstocherte, wobei er aussah, als sei er es, auf den eingestochen wurde. Auch Karin schien der Hunger vergangen zu sein. Mark hingegen legte den für ihn typischen Appetit an den Tag. Trotz der drei Schokoriegel, die er vor dem Essen in sich hineingestopft hatte, verdrückte er zwei Portionen des Kartoffelauflaufs und anschließend noch eine große Schale Sahnedessert, das er sich geräuschvoll in den Mund schaufelte. Anscheinend war er der Einzige, dem die jüngsten Ereignisse nicht auf den Magen geschlagen waren.
»Ich bin fertig, Mami«, verkündete er schließlich, nachdem er den letzten Rest vertilgt hatte. »Darf ich nach oben gehen?«
»Ja, geh nur, Schätzchen«, sagte Karin, hob ihn aus seinem Stuhl und lächelte ihn an.
»Okay.« Mark trottete mit der sorglosen Naivität eines Vierjährigen davon, nichts ahnend von den Sorgen und Gefahren, denen sich seine Eltern ausgesetzt sahen, und bereit, sich in seinem Kinderzimmer neuen Abenteuern zu stellen.
»Was war denn vorhin los?«, wollte Karin schließlich nach etlichen Minuten des Schweigens wissen. »So aufgebracht habe ich dich und Fanta noch nie gesehen.«
»Sag du es mir«, erwiderte Tom gereizt. »Wie es aussieht, macht ihr beide ja jetzt gemeinsame Sache.«
Sie seufzte und ließ die Gabel auf ihren Teller sinken. »Wir machen uns doch nur Sorgen um dich, Tom.«
»Danke, aber das ist absolut nicht nötig.«
»Der Meinung bin ich nicht«, sagte sie und trank einen Schluck aus ihrem Weinglas. »Ich finde, es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen.«
»Was für eine Entscheidung?«
»Ob du weiterhin den Dickschädel spielen willst oder bereit bist, dir helfen zu lassen. Ich denke, du solltest diese Therapie machen, die Dr. Westphal dir empfohlen hat. Sie wird dir helfen, davon bin ich überzeugt. Fanta übrigens auch.«
Langsam hob Tom den Blick von seinem Teller und sah sie eindringlich an. »So, Fanta, ja? Wann hast du denn mit ihm darüber gesprochen?«
»Wir haben uns schon letzte Woche darüber unterhalten.«
»Na, sieh mal einer an«, murmelte Tom, und in seiner Stimme schwang eine unterschwellige Spannung mit. »Jetzt trefft ihr euch also schon heimlich und redet hinter meinem Rücken über mich.« Wütend schob er seinen Teller beiseite. »Und das, obwohl ich selbst erst heute Morgen von dieser Therapie gehört habe. Ich gehe also mal stark davon aus, dass Dr. Westphal auch zu deiner kleinen Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Geisteskranken gehört?«
Wieder ein zaghaftes Seufzen. »Sie hat mich in den letzten Wochen ein paarmal auf meinem Handy angerufen.«
»Das glaub ich einfach nicht«, zischte Tom völlig außer sich.
»Sie hat keinerlei Details erwähnt«, wiegelte Karin sofort ab. »Sie hat nur von ihren Bedenken gesprochen, was die Fortschritte deiner Therapie betrifft, und dass sie das Gefühl hat, du verschweigst ihr etwas.«
Tom erwiderte nichts. Er saß nur da und starrte vor sich auf den Tisch.
»Ich habe ihr gesagt, ich könne mir das nicht erklären«, fuhr Karin vorsichtig fort, »allerdings habe ich auch zugegeben, dass es mir genauso geht. Daraufhin hat sie zum ersten Mal die Hypnosetherapie erwähnt. Sie hat mir die Einzelheiten erklärt und gemeint, sie sei sehr zuversichtlich, was den Erfolg anginge. Allerdings war sie sich auch sicher, dass es schwierig werden würde, dich davon zu überzeugen. Kurz danach bin ich dann Fanta beim Einkaufen begegnet. Ich habe ihn zu meinem Geburtstag eingeladen, und wir sind ein wenig ins Plaudern gekommen. Da hab ich ihm davon erzählt. Ich brauchte einfach jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Du bist in letzter Zeit so stur und in dich gekehrt, dass ich keinen anderen Ausweg mehr wusste. Fanta hatte immer einen besseren Zugang zu dir. Also habe ich ihn um Hilfe gebeten, ich habe gehofft, er könnte dich vielleicht umstimmen.«
Allmählich erwachte Tom aus seiner Starre. Sein ausdrucksloser Blick schwenkte zu Karin hinüber. »Tja, dann ist ja alles klar«, verkündete er, und seine Unterlippe begann vor Wut zu zittern. »Anscheinend hatte ich wohl wieder einen Blackout, denn es muss mir irgendwie entgangen sein, dass ihr jetzt die Entscheidungen für mich trefft.«
»Tom, bitte. Tu nicht so, als wäre das hier eine Verschwörung
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