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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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gebracht. Nebenbei hatte er eine Familie gegründet und sich ein Heim geschaffen. Er war finanziell unabhängig und konnte durchaus von sich behaupten, eine rechtschaffenere Existenz zu führen als viele seiner Mitmenschen. Er hatte genügend Stärken bewiesen. Was musste er noch leisten, bis man auch seine Schwächen akzeptierte?
    Ein Geräusch vor der Tür seines Arbeitszimmers riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte das hölzerne Knarren der Dielen, dann ein gedämpftes Poltern, das leise Klirren von Geschirr. Danach Schritte, die sich wieder entfernten. Die Uhr zeigte ihm, dass es bereits nach elf war. Zögernd verharrte er einige Sekunden, bis er sich erhob und neugierig durch den Türspalt spähte. Das Licht aus dem Zimmer fiel auf den dunklen Boden des Flures, auf dem er ein Tablett mit belegten Broten und einer Tasse heißem Kakao entdeckte.
    Karin.
    Diese offensichtliche Geste der Versöhnung bescherte ihm augenblicklich ein Kribbeln am ganzen Körper. Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Aber gleichzeitig auch das heftige Zwicken seines schlechten Gewissens. Er hatte ihr schlimme Dinge gesagt. Worte, die er längst bereute und die er im Zorn gesprochen hatte. Verdammter Dickschädel, rügte er sich in Gedanken, und einen Moment lang überwog das Bedürfnis, ihr nachzulaufen, sie in die Arme zu schließen und sich mit ihr auszusprechen. Doch er unterdrückte diesen Impuls. Nicht aus Feigheit oder aus falschem Stolz heraus. Zumindest redete er sich das ein. Er war einfach viel zu erschöpft dafür. Das viele Grübeln und die Suche nach Erklärungen hatten ihn geistig wie körperlich ausgelaugt. In seinem Kopf schien sich alles zu drehen, und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Keine besonders gute Ausgangssituation für ein Friedensangebot. Erst einmal war es an der Zeit, seine Gedanken zu ordnen und sich ein wenig zu stärken.
    Er trug das Tablett ins Zimmer und machte sich über die Brote her. Erst jetzt bemerkte er, dass er völlig ausgehungert war. Nachdem er den letzten Bissen heruntergespült hatte, überkam ihn schlagartig eine bleierne Müdigkeit, und es gelang ihm gerade noch, sich auf die Couch seines Arbeitszimmers zu schleppen, wo er augenblicklich in tiefen Schlaf sank.
    Geräusche. Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er, Geräusche zu hören – eine Art Fiepen, das ihm vertraut vorkam und gleichzeitig fremd klang –, doch er konnte ihren Ursprung nicht orten. Es fühlte sich an, als kämen sie nicht von außerhalb, sondern aus dem Inneren seines Verstandes, der von Müdigkeit umspült wurde wie ein Fels in einer tosenden Brandung. Und er hatte das Gefühl, nicht allein dort zu sein. Hier, in den Tiefen seines Bewusstseins, spürte er die Anwesenheit eines anderen. Sie war nicht greifbar, mehr unterschwellig, als fühle er sich von jemandem beobachtet. Jemandem, der ihn studierte, ihn abschätzte. Jemand, der in ihm las wie in einem Buch. Er kam sich vor wie auf einem Seziertisch, nackt und vom Schlaf betäubt, aber gleichzeitig wach genug, um die Gefahr zu spüren, die ihn umgab.
    Träumte er, oder geschah dies wirklich?
    Noch ehe er diesen Gedanken fassen konnte, brach eine weitere Welle aus Müdigkeit über ihn herein und zog ihn ganz hinab in die dunklen, unergründlichen Fluten des Ozeans …
Nächster Tag
     
Mittwoch, 17. Mai
     
     
     
     
     
    B ehäbig schlug Tom die Augen auf. Seine Lider schienen schwer wie Blei zu sein. Die Sonne, die ihre Strahlen durchs Fenster warf, blendete ihn und schmerzte in seinen Augen. Er hörte das Zwitschern der Vögel draußen über dem See. Einen kurzen Moment lang hielt er es für die Schreie eines Kindes, bis sich das Dickicht langsam lichtete, das der Schlaf um ihn gelegt hatte, und er allmählich die Kontrolle über seinen Verstand zurückgewann. In seinem Kopf summte es wie in einem Bienenschwarm. Als er sich langsam aufrichtete, breitete sich dieses Summen bis in alle Glieder aus. Er brauchte eine Weile, um halbwegs zu sich zu kommen und zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Zunächst drang es nur schemenhaft zu ihm durch, doch als er sich umblickte, stellte er fest, dass er sich nicht mehr in seinem Arbeitszimmer befand.
    Er saß auf der Polsterliege im Wintergarten. Üppige Grünpflanzen umgaben ihn, und durch die Verglasung hindurch wanderte sein Blick über den Garten und Teile des Sees.
    Wie war er hierhergekommen? War er etwa wieder geschlafwandelt?
    Er sah auf die Uhr neben dem schwarzen Fernseher und stellte

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