Stigma
erschlafften. Erschrocken ließ er von dem Professor ab, der sich sofort zur Seite rollte und nach Luft schnappte.
Was um alles in der Welt war geschehen?
Völlig orientierungslos schaute er sich um. Er stand mitten in seinem Wintergarten. Zu seiner Linken sah er einen umgestürzten Stuhl auf dem Boden. Daneben lag Dr. Westphal. Sie rieb sich benommen die Wange und stemmte sich hoch.
»Tom, sind Sie wieder bei uns?«, fragte sie, während sie ihn wachsam musterte. »Alles in Ordnung?«
Nein, nichts war in Ordnung. So wie es aussah, hatte er gerade versucht, jemanden zu erwürgen, der jetzt keuchend vor seinen Füßen lag und nach Luft rang. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, warum er das getan hatte. Wie konnte sie da also annehmen, dass alles in Ordnung wäre?
Tom richtete sich auf, taumelte einige Schritte zurück und ließ sich kraftlos auf das Sofa fallen, auf dem er noch vor wenigen Augenblicken gelegen hatte. Zumindest war es das, woran er sich erinnerte. Er saß da und sah die beiden Ärzte an, die sich langsam von ihrem Schock erholten.
»Professor?«, hörte er Dr. Westphal durch seine wattegleiche Benommenheit hindurch rufen. Er sah, dass ihre Wange rot und angeschwollen war. »Professor, ist alles in Ordnung?«
Der Professor tastete nach seiner Lesebrille auf dem Boden und richtete sich auf. »Ja«, krächzte er heiser und hielt sich den schmerzenden Hals. »Ich lebe noch.«
»Wie konnte das passieren?«, fragte sie aufgeregt und eilte zu ihm. »Ich meine, wieso ist er nicht aufgewacht?«
Der Professor betrachtete Tom skeptisch. Irgendetwas an der Art, wie er dasaß, schien ihn misstrauisch zu machen. »Nun, wenn ich Ihr Gesicht und meinen Hals in Betracht ziehe, denke ich, er ist aufgewacht.« Er ergriff ihre Hand, die ihn auf die Beine zog. »Allerdings könnte es sein, dass das nicht derselbe Tom Kessler war, den ich in Tiefschlaf versetzt habe. Sehen Sie das?« Er deutete auf Toms Hand, die in gleichmäßigem Rhythmus über seinen Oberschenkel strich. »Das ist ein typisches Erdungsverhalten nach einem Switch.«
»Ein Wechsel?« Dr. Westphal betrachtete ihn erstaunt. »Sie meinen … ein Multipler?«
»Nun ja, es könnte natürlich auch die ganz normale Nachwirkung einer Hypnose sein, zumindest wenn sie so abrupt beendet wurde. Andererseits wäre eine Dissoziative Identitätsstörung eine plausible Erklärung für die anfänglichen Probleme bei der Rückführung. Und für sein plötzliches aggressives Verhalten. Immerhin ist er einfach aufgestanden und auf uns losgegangen. Hätte er sich zu diesem Zeitpunkt noch in Trance befunden, wäre das wohl kaum möglich gewesen. Findet aber während der Hypnose ein Wechsel der Persönlichkeit statt, wären die indizierten Befehle außer Kraft gesetzt.«
»Mein Gott«, stieß Dr. Westphal hervor. »Wieso habe ich das in all den Jahren nie in Betracht gezogen?«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass eine Dissoziative Identitätsstörung nur sehr schwer zu diagnostizieren ist. Selbst die Ursachen sind nach wie vor umstritten. Wäre dieser Vorfall nicht gewesen, hätte ich es auch nicht in Betracht gezogen. Was übrigens noch lange nicht bedeutet, dass es auch so ist.« Er stützte sich erschöpft auf die Lehne des Sessels, bevor er sich keuchend darin niederließ.
»Aber es deutet doch einiges darauf hin«, meinte Dr. Westphal, und es klang wie ein Vorwurf, der gegen sie selbst gerichtet war. »Das Trauma in der Kindheit, die Gedächtnislücken, soziale Abgrenzung, Panikattacken … Das sind alles Anzeichen für DIS .«
»Ja, genau wie für viele andere psychische Erkrankungen, einschließlich der posttraumatischen Belastungsstörung, die Sie diagnostiziert haben, Frau Kollegin. Wir sollten also nicht zu vorschnell sein. Es gibt noch einige andere DIS -Symptome, die ich in diesem Fall vermisse.«
Er griff nach Toms Akte, die zu seinen Füßen lag. Dann setzte er sich die Brille auf die massige Nase und blätterte hastig in den Unterlagen.
»Soviel ich weiß, leidet der Patient nicht an Essstörungen, die ebenfalls typisch sind«, meinte er und klang dabei wie ein Fährtensucher, der auf die Spur eines Grizzlys gestoßen war. »Auch Selbstverletzung scheidet aus. Und in seinen Unterlagen steht, dass er verheiratet ist. DIS -Patienten sind in der Regel zu solchen Bindungen nicht fähig. Außerdem müssten der Partnerin die ständigen Wechsel in der Persönlichkeit aufgefallen sein.« Nachdenklich blickte er von den Unterlagen auf. »Wo ist
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