Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
Vom Netzwerk:
gerissen, und allmählich begann er zu begreifen, weshalb ihm sein Bewusstsein all die Jahre den Zugriff auf diese Erinnerungen verweigert hatte. Denn seit der Rückführung hatte er diese schrecklichen Erlebnisse fortwährend vor Augen. Sie verfolgten ihn wie ein Raubtier auf Beutezug, das nur darauf lauerte, ihn hinterrücks anzufallen und zu Boden zu reißen. Immer wieder tauchte das Gesicht des Wächters vor ihm auf, dessen Augen von Wahnsinn erfüllt waren. Jedes unerwartete Geräusch ließ ihn zusammenzucken, und hinter jedem Schatten vermutete er eine Bedrohung. Selbst jetzt, als er vor der Polsterliege stand, auf der er vor zwei Tagen dies alles noch einmal durchlebt hatte, zitterten seine Hände abermals. Er würde hier nicht zur Ruhe kommen. Wahrscheinlich überhaupt nie mehr.
    Er machte ein paar Schritte und ließ seinen von Müdigkeit getrübten Blick durch die glasigen Wände des Raumes nach draußen gleiten, beobachtete die regenschweren Wolken, die den Himmel bedeckten wie dunkle Rauchschwaden und die Landschaft in ein düsteres, bedrohliches Licht tauchten, das ihre erblühende Pracht in Trostlosigkeit erstickte. Beinahe kam es ihm so vor, als passe sich das Wetter seinen Stimmungen an, als ändere es sich im wechselhaften Takt seiner Emotionen und verdeutliche ihm auf diese Weise, dass die Welt da draußen ihn ebenso verachtete wie er sie. Doch gerade als er diesen Gedanken mit einem Kopfschütteln abtat und sich abwenden wollte, überflutete plötzlich eine Welle der Angst seinen Körper und spülte sämtliche Müdigkeit davon, während er wie gelähmt durch das Glas nach draußen starrte.
    In seinem Garten stand ein Mann.
    Dank des fast dämmerigen Lichts der dichten Gewitterwolken, die sich wie ein Rußfilter vor die Mittagssonne geschoben hatten, hätte man ihn zunächst nur für einen Schatten halten können. Doch bei genauerem Hinsehen konnte Tom eindeutig die Konturen eines Menschen ausmachen. Er stand reglos etwa fünfzehn Meter entfernt vor der Zypressenhecke, fast genau an der Stelle, an der Tom wenige Tage zuvor seinen eigenen Sohn fast bewusstlos geschlagen hatte.
    Das Zittern seiner Hände wurde stärker, und seine Knie gaben nach. Er presste sich gegen das Glas, um die Gestalt möglichst genau sehen zu können. Und als wolle das nahende Unwetter ihm dabei behilflich sein, zuckte in diesem Moment ein Blitz am Himmel auf und tauchte seinen Garten in grelles, blendendes Licht, das für Sekundenbruchteile das Gesicht des Mannes erhellte. Soweit Tom erkennen konnte, war der Mann relativ jung; er schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er hatte dunkles, fast schwarzes glattes Haar, das über der Stirn spitz zulief. Das Gesicht war kantig, mit geraden Linien und markantem Kiefer. Der Mann trug eine Brille mit dunklem Rand. Die schmalen Augen dahinter waren wachsam, und sie starrten ihn an, beobachteten ihn. Sein entschlossener Blick schien ihm mitteilen zu wollen, dass er ihn genau das wissen lassen wollte. Auch seine helle, beinahe weiße Kleidung, an der das Licht des Blitzes abprallte wie an Reflektoren, deutete keineswegs auf Verstohlenheit. Dieser Mann wollte gesehen werden, er wollte ihm damit sagen, dass es selbst hier, in seinem Refugium, in seiner vermeintlich sicheren Zone, kein Entrinnen vor ihm gab.
    »Verschwinde!«, schrie Tom und schlug in seiner Verzweiflung mit der flachen Hand gegen das Glas, das ihn wie eine durchsichtige Wand von der Außenwelt trennte. »Mach, dass du wegkommst!«
    Doch die Gestalt verharrte regungslos und starrte ihn weiter an, studierte ihn, schien sich an seiner Angst zu weiden.
    Tom erwiderte den Blick des anderen, und der altbekannte Hass stieg wieder in ihm auf, befiel sämtliche Moleküle seines Körpers und spannte jeden seiner Muskeln. Sosehr er sich auch gegen dieses Gefühl zur Wehr setzte, gegen seine Unkontrollierbarkeit ankämpfte, es machte ihn rasend. Er spürte, wie die Wut sich in ihm verdichtete wie Luft in einer Druckkammer. Wut darüber, dass dieser Dreckskerl hier einfach eindrang und damit kaltblütig seine so sicher geglaubte Vorstellung von Geborgenheit zerstörte. Aber auch Wut darüber, dass er ihn über seine Motive im Unklaren ließ. Sein Atem ging schneller, schlug sich in nebligen Flächen auf dem Glas nieder, als wollte er damit den angestauten Druck ausgleichen. Doch es war vergebens.
    Rasend vor Wut stemmte er sich von der Glasfront weg, rannte durch den Wintergarten ins Wohnzimmer. Dort riss er wie von Sinnen die gläserne

Weitere Kostenlose Bücher