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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Schiebetür auf und stürmte auf die Terrasse. Als er nach wenigen Metern deren Ende erreicht hatte, blieb er keuchend stehen. Seine vor Zorn geröteten Augen suchten hektisch den Garten ab. Doch der Mann war ebenso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war, ohne eine Spur oder einen Beweis seiner Anwesenheit zu hinterlassen. Aber er hatte dort gestanden, dessen war Tom sich völlig sicher. Genauso, wie er überzeugt davon war, dieses markante Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Doch so sehr er auch in sich hineinhorchte, die Erinnerung daran war so weit entfernt, dass er sie nur erahnen, aber nicht einordnen konnte. Es war wie ein Déjà-vu, eine Situation, von der man sicher war, sie schon einmal erlebt zu haben, die einem aber gleichzeitig wie ein lange zurückliegender, unwirklicher Traum vorkam.
    Ein weiterer Blitz zuckte durch die immer dichter werdenden Wolken, ließ sie wie todbringende Schatten auf einem Röntgenbild erscheinen.
    »Wer bist du?«, schrie Tom wutentbrannt in seinen Garten hinaus. »Und was zum Teufel willst du von mir?«
    Doch die einzige Antwort bestand aus Donnergrollen, das der auffrischende Wind über den See zu ihm herübertrug.
    Ein Gedanke tauchte in seinem verwirrten Verstand auf wie Treibgut eines gesunkenen Schiffes: Vielleicht war dieser Kerl ja nur eine weitere Vision gewesen. Nur eine weitere versteckte Erinnerung, die durch die Hypnose freigelegt worden war. Was war real, und was entsprang seinem Unterbewussten? Dies zu unterscheiden schien immer schwieriger zu werden, gab ihm immer mehr das Gefühl, sich in einer Zwischenwelt zu bewegen, einer vierten Dimension, in der nichts so war, wie es erschien. Andererseits überfielen ihn diese Visionen nicht völlig unverhofft. Sie kündigten sich meist durch imaginäre Erscheinungen an wie Boten aus einer Schattenwelt. Licht, das intensiver wurde. Stimmen, die aufgescheucht durch seinen Kopf geisterten. Hecken, die sich zu Zäunen verflochten. Und immer hatte er dabei das Gefühl, sich in einem Vakuum zu befinden, das ihn von der realen Welt abschirmte. Dieser Kerl jedoch, diese Gestalt, war einfach in seinem Garten aufgetaucht, ohne jede Vorwarnung. Deshalb hielt er die Erscheinung für echt, was seinem Gefühlsausbruch keinen Abbruch tat. Und gerade als er dorthin laufen wollte, wo der Mann noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, um nach Beweisen dafür zu suchen, dass er nicht völlig den Verstand verloren hatte, verharrte er ein weiteres Mal.
    Durch die dichten Bäume hindurch sah er die Scheinwerfer eines Autos, die sich auf ihn zubewegten. Fast im selben Moment, als der Wagen sich etwa dort befand, wo der Weg in die Zufahrt zu seinem Grundstück mündete, klingelte das Telefon.
    Aufgeschreckt wirbelte Tom herum, zögerte aber unentschlossen. Er beobachtete weiterhin die Scheinwerfer, die immer näher kamen, bis sie schließlich von der Frontseite seines Hauses verdeckt wurden. Kurz darauf hörte er das dumpfe Zuschlagen einer Autotür. Erst jetzt hastete er ins Haus zurück und blieb atemlos vor dem Telefon stehen. Das Display zeigte eine unbekannte Nummer an. Unschlüssig schwebte seine Hand über dem Hörer, und das Zittern kehrte in seine Finger zurück wie bei einem Parkinsonschub. Er hatte Mühe, die Sprechtaste des Mobilteils zu drücken.
    Ein angespanntes »Ja?« war alles, was er hervorbrachte.
    »Hallo, Tom«, ertönte Dr. Westphals Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Verbindung war glasklar, und außer ihrem Atem konnte Tom das hohle Klacken ihrer Absätze hören, die sich über festen Boden bewegten.
    »Ich dachte schon, Sie wären nicht zuhause«, fügte sie hinzu.
    Tom fragte sich, ob diese Bemerkung als Witz gedacht war oder ob sie es ernst meinte. Ihr neutraler Tonfall ließ jedenfalls keinerlei Anzeichen von Humor erkennen. »Sie haben Glück, ich wollte gerade zu meinem wöchentlichen Golftreffen«, erwiderte er, ebenso neutral.
    Den Hörer fest gegen das Ohr gepresst, hatte Tom mittlerweile das Wohnzimmer verlassen und ging den Flur hinunter zur Haustür. Durch das Bleiglas konnte er einen Schatten erkennen, der sich davor bewegte.
    »Sie sind ziemlich außer Atem«, stellte sie fest. »Ist alles in Ordnung?«
    Der Schatten kam näher, wurde größer, bis er die schmalen Glasflächen der Tür ausfüllte.
    »Ja … ich war nur draußen im Garten, als Ihr Anruf kam.« Er zwang sich, so normal wie möglich zu klingen, wollte keinesfalls irgendeinen Zweifel in ihr aufkommen lassen, dass etwas

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