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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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zusammen und vergrub sein Gesicht in den zitternden Händen.

Zwei Tage später
     
Montag, 22. Mai
     
     
     
     
     
    T om saß in der Küche und stocherte gedankenverloren in den Resten des Kartoffelsalates herum. Seit zwei Tagen ernährte er sich jetzt von dem, was eigentlich für Karins Geburtstagsgäste vorgesehen gewesen war. Doch ihm war klar, dass dieser Vorrat nicht ewig anhalten würde. Den Kalbs- und Rinderbraten hatte er als Erstes entsorgt, Fleisch kam für ihn ohnehin nicht infrage. Als Nächstes würde er sich von den restlichen Salaten trennen müssen, wenn er nicht riskieren wollte, sich mit Salmonellen zu vergiften. Blieb ihm also nur noch der Kuchen, bevor er auf die Dienste eines Lieferservice angewiesen war. Aber auch das wäre bestenfalls eine vorübergehende Lösung, das wusste er. Es sei denn, er würde sich zum Frühstück mit kalter Pizza und Reis begnügen. Doch er verdrängte das Problem der Nahrungsbeschaffung, so gut er konnte, und ging stattdessen zur Tagesordnung über, die größtenteils daraus bestand, seiner abgeschiedenen und nunmehr einsamen Existenz eine gewisse Normalität zu verleihen.
    Ein paarmal hatte er sich dabei ertappt, wie er durch das Haus gewandert war, das verwaiste Kinderzimmer inspiziert oder vor Karins leerem Kleiderschrank gestanden hatte und ihn das bleierne Gefühl der Einsamkeit beinahe erdrückt hatte. Mehrmals hatte er versucht, sie zu erreichen, um sich endlich mit ihr auszusprechen. Doch ihr Handy war ausgeschaltet, was ihm signalisierte, dass sie noch nicht dazu bereit war. Also hatte er es unterlassen, bei ihren Eltern anzurufen. Sie hätte sich ohnehin von ihnen verleugnen lassen. Und so hatte er damit begonnen, die Vorteile seiner Situation zu betrachten. Er war von allen verlassen und allein. Auch Fanta hatte sich seit ihrem Streit nicht mehr gemeldet, und selbst Dr. Westphal ließ, entgegen ihrer Ankündigung, nichts mehr von sich hören, so dass er davon ausging, auch sie verloren zu haben. Seine Enttäuschung darüber hielt sich jedoch in Grenzen, denn er fühlte sich mehr denn je in dem Gefühl bestätigt, dass dies alles nichts weiter als eine Illusion gewesen war. Der verzweifelte Versuch, sich an ein Leben zu klammern, zu dem er längst nicht mehr fähig war. Ein Leben in einer Welt, die für ihn nur aus Argwohn und Furcht bestanden hatte. Und auch wenn es ihm im Moment noch sehr schwerfiel, das zu akzeptieren, so war er sich insgeheim doch sicher, allein besser dran zu sein. Immerhin war es ihm nach all den Jahren, in denen er sich mühsam in dieses Leben zurückgekämpft hatte, quasi im Alleingang gelungen, sich eine erfolgreiche Existenz aufzubauen. Außerdem schien diese Gegenwart einzig und allein auf ihn zugeschnitten zu sein, da sie nur räumlich begrenzt war. Hier, in seinem Zuhause, konnte er der sein, der er sein wollte. Es war sein Refugium, seine angstfreie Zone. Und sollte es tatsächlich sein Schicksal sein, sich hier für den Rest seines Lebens vor der Außenwelt zu verstecken, dann würde er das stillschweigend hinnehmen. Er hatte am eigenen Leib erfahren, dass es schlimmere Fügungen gab. Dies hier war nur eine weitere Enttäuschung, die das Zusammenleben mit anderen Menschen zwangsläufig mit sich brachte. Wenn er recht darüber nachdachte, fühlte er sich gleichermaßen schwermütig wie auch befreit. Befreit von der Pflicht der Verantwortung und der Fürsorge. Und auch befreit von jeglichen Verbindlichkeiten und von Mitgefühl. All diese Dinge waren es gewesen, die ihn schließlich in diesen Keller getrieben hatten, somit gehörten sie der dunklen Seite an, die er aus seinem Leben verbannen wollte. Daher war Einsamkeit für ihn die unausweichliche Folge. Vermutlich war er jetzt einfach an dem Punkt angelangt, auf den seit jenem Tag vor dreizehn Jahren alles zugesteuert war. Und obwohl das Verlustgefühl im Augenblick dominierte, war er sicher, diesen Verlust schon bald akzeptieren zu können. Denn mit den Menschen würde er auch seine Ängste ausschließen. Womöglich gelang es ihm dadurch sogar, sich wieder ganz dem Schreiben zu widmen. Denn darin sah er jetzt seine einzige Berufung.
    Nachdem er die Reste entsorgt und das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine verstaut hatte, ging er in den Wintergarten. Vor dem Mittagessen hatte er hier vergeblich versucht, ein wenig Schlaf zu finden. Die letzten beiden Nächte waren alles andere als erholsam für ihn gewesen. Ständig hatten ihn Alpträume gequält und aus dem Schlaf

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