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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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ruhig zutrauen, eine solche Situation auch aus menschlicher Sicht heraus betrachten und beurteilen zu können, nicht nur aus medizinischer. Auch Ärzte haben Gefühle, Tom, und wir sind durchaus in der Lage, diese mit anderen zu teilen. Ihnen allerdings scheint diese Fähigkeit völlig abhandengekommen zu sein.«
    Er starrte auf seine Finger, die unruhig auf und ab zuckten. »Mag sein«, meinte er kleinlaut. »Vermutlich ist sie noch immer in diesem Keller gefangen, wie der Rest von mir.«
    »Nein, Tom«, widersprach sie energisch und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Im Moment ist es eher so, dass Sie sich Ihren eigenen Keller bauen, in dem Sie all Ihre Gefühle einsperren, in der Hoffnung, sich so vor neuen Attacken schützen zu können. Und wenn Sie auch weiterhin vorhaben, sich vom Rest der Menschheit abzuschotten, dann werden die wenigen Menschen, denen Sie noch etwas bedeuten, sich von Ihnen abwenden. Wollen Sie das wirklich?«
    Er betrachtete sie einige Sekunden schweigend, dann jedoch war es ihm nicht länger möglich, ihrem fordernden Blick standzuhalten. Sosehr er sich nach außen hin auch bemühte, den Gleichgültigen zu spielen, es gelang ihm nicht, seine innere Zerrissenheit vor ihr zu verbergen.
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach dagegen tun?«
    »Begraben Sie Ihren Hass, Tom«, antwortete sie, »bevor er Sie begräbt. Öffnen Sie sich dieser Welt und lernen Sie, wieder auf andere Menschen zuzugehen. Finden Sie wieder zu sich selbst.«
    »Und wenn es dafür schon zu spät ist?«
    »Dafür ist es nie zu spät. Es hängt allein von Ihrer Einstellung ab. Versuchen Sie einfach wieder der Tom zu sein, der Sie als Kind gewesen sind.«
    »Ja, das hat mich wirklich weit gebracht …«
    »Und hören Sie endlich damit auf, andere für alles verantwortlich zu machen, was in Ihrem Leben schiefläuft«, unterbrach sie seinen Einwand entschlossen. »Sie können die Ereignisse von damals nicht ewig als Entschuldigung für Ihre Unfähigkeit benutzen, sich dem Leben zu stellen. Und die Angst davor, verletzt zu werden, gehört nun einmal dazu. Sie ist ein ganz normaler Bestandteil davon, man muss nur lernen, sich darauf einzustellen. Leider fehlt Ihnen diese Gabe, weil Sie viel zu früh mit dieser Angst konfrontiert worden sind, zu einer Zeit, in der Sie einfach noch nicht in der Lage waren, diese Dinge zu verarbeiten. Aber jetzt ist Ihr Verstand älter, Tom, reifer. Und man kann durchaus von Ihnen verlangen, sich damit auseinanderzusetzen.«
    Tom dachte an den Ständer in seiner Hose und fragte sich, ob der auch seiner Reife entsprach.
    »Ich dachte, das hätte ich bereits getan.«
    »Sie meinen die Hypnose? Es waren doch wohl mehr die Umstände, die Sie dazu getrieben haben. Eine solche Maßnahme schließt die Aufarbeitung des Erlebten mit ein. Aber so, wie ich Sie einschätze, haben Sie in den letzten beiden Tagen erfolgreich verdrängt, was während der Rückführung und danach passiert ist. Und ich könnte wetten, Sie haben noch nicht einmal die Polizei davon in Kenntnis gesetzt, was Sie über den Täter von damals in Erfahrung gebracht haben, so dass die vermutlich noch immer wertvolle Zeit damit verschwenden, unter falschen Prämissen zu ermitteln. Das alles hat für mich weder etwas mit Anteilnahme noch mit Aufarbeitung zu tun, das zeugt nur davon, wie sehr Sie auf sich selbst und Ihre Ängste fixiert sind. Und darauf, Ihre kleine normale Welt hier vor dem Einsturz zu bewahren. Mit wenig Erfolg, wie Sie selbst zugeben müssen. Daher würde ich Ihnen vorschlagen, es mal mit einer anderen Strategie als mit Flucht zu versuchen.«
    Das waren klare Worte. Und Tom musste sich eingestehen, dass sie damit nicht ganz falschlag. Es war ihm tatsächlich nicht in den Sinn gekommen, Kommissar Dorn anzurufen. Er hätte nicht sagen können, was ihn daran wütender machte, die Möglichkeit, dass ihm das alles anscheinend egal geworden war oder dass Dr. Westphal es ihm so unverblümt zum Vorwurf machte. Was immer es auch war, es brachte sein Blut augenblicklich zum Kochen, und er spürte Wut mit der Wucht einer Gasexplosion in sich aufsteigen.
    »Ach ja?«, gab er abfällig zurück, und sein Blick verriet, wie schwer es ihm fiel, diesen erneuten Wutausbruch einzudämmen. »Spricht da jetzt die Freundin oder die Analytikerin?«
    Sie betrachtete ihn abschätzend. Dann seufzte sie enttäuscht. »Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt. Ich war einfach der Meinung, dass es an der Zeit ist, einmal offen mit Ihnen darüber

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