Stigma
Phrasen. Was für eine Ärztin sind Sie eigentlich? Sie kommen einfach in mein Haus, geben vor, meine Freundin zu sein, und bilden sich ein, mein Leben und meine Entscheidungen mit fünf Sätzen infrage stellen zu können. Und dabei haben Sie im Grunde genauso wenig Ahnung von dem, was hier eigentlich vorgeht, wie ich. Wodurch Ihren diesbezüglichen Analysen eine gewisse Willkür anhaftet, die mich langsam an Ihren Fähigkeiten zweifeln lässt. Nur in einer Sache stimme ich Ihnen zu: Es ist mir nämlich wirklich langsam scheißegal, was Sie oder sonst wer im Schilde führen oder was vor dreizehn Jahren in irgendeinem beschissenen Keller passiert ist! Ich will von alldem nichts mehr wissen, ich will nur noch meine Ruhe haben. Und wenn das bedeutet, dass ich Menschen wie Ihnen den Rücken kehren muss, dann nehme ich das gerne in Kauf! Und jetzt packen Sie am besten Ihre Geschenke und Ihre schlauen Sprüche und schwingen Ihren Knackarsch wieder in Ihr Auto! War das offen genug für Sie, Frau Doktor?«
Er wischte schwungvoll mit dem Arm über den Tisch und fegte die beiden Tassen weg, die an der Anrichte zerschellten und den Rest ihres Inhaltes über den Boden verteilten. Dann stand er wütend auf und ging zu dem Küchenfenster über der Spüle, wo er schnaufend verharrte und seiner völlig perplexen Besucherin demonstrativ den Rücken zuwandte.
Eine bleierne Stille legte sich über den Raum, die nur vom fernen Grollen des Unwetters unterbrochen wurde, das sich draußen entlud. Dr. Westphal holte ein paarmal tief Luft, um sich von dem Schock zu erholen und ihre Fassung zurückzugewinnen. Nur langsam fand sie die Kraft, sich von ihrem Stuhl zu erheben.
»Sie machen es einem wirklich nicht leicht, Sie zu mögen, Tom«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Aber anscheinend legen Sie ja auch keinen großen Wert darauf, dass jemand das tut. Ich jedenfalls bin heute nur hier, um zu tun, worum Sie mich gebeten haben, als Sie zum ersten Mal in meine Praxis gekommen sind. Aber so wie ich das sehe, haben Sie ein ernsthaftes Problem damit, die Hilfe anderer anzunehmen, weshalb meine Dienste hier wohl nicht länger benötigt werden.« Noch immer rang sie um Fassung, ihre Finger hatten Mühe, die Knöpfe der Jacke zu schließen. »Falls Sie es sich doch noch anders überlegen sollten, gebe ich Ihnen gerne die Nummer eines Kollegen. Ich jedenfalls sehe mich durch Ihre Einstellung außerstande, Sie weiter zu behandeln. Für die Einkäufe sind Sie mir nichts schuldig. Betrachten Sie es meinetwegen als eine Art Entschädigung für nicht erbrachte Dienstleistungen. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Tom. Leben Sie wohl.« Die Scherben der Tassen knirschten unter ihren Schritten, als sie hastig zur Tür ging.
»Warten Sie«, sagte Tom mit einer Stimme, aus der alle Dominanz gewichen war. »Bitte, gehen Sie nicht.« Noch immer stand er vor dem Fenster und kehrte ihr den Rücken zu, die Hände auf die Arbeitsplatte gestützt, den Kopf gesenkt.
Das Knirschen verstummte.
»Es tut mir leid«, gestand er kleinlaut. »Sie haben recht, mit allem, was Sie behaupten. Und vermutlich ist es genau das, was mich so wütend macht. Das Schlimme daran ist, dass ich diese Wut nicht kontrollieren kann. Ich weiß nicht einmal, wo sie herkommt. Aber sie trifft mich so unverhofft, dass ich …«
Er schlug mit beiden Fäusten auf die Arbeitsplatte und schnaufte den angestauten Druck aus sich heraus. Dann drehte er sich langsam zu ihr um und betrachtete sie durch den Schleier der Tränen in seinen Augen.
»Bitte geben Sie mich nicht auf«, flehte er und schluchzte auf. »Ich habe immer mehr das Gefühl, den Verstand zu verlieren, nicht mehr ich selbst zu sein. All die Dinge, die ich sehe, die Stimmen in meinem Kopf … Ich frage Sie aufrichtig, bin ich verrückt?« Er kniff die Augen fest zusammen, so dass die Tränen nach draußen drängten, als wollten sie sich mit dem Regen vereinen, der gegen das Fenster klopfte. »Halten Sie es tatsächlich für möglich, was der Professor gesagt hat?« Sanft schlug er sich mit der geballten Faust gegen die Schläfe. »Dass da drin noch jemand existiert? Jemand, der mich innerlich auffrisst und womöglich zu schlimmen Dingen in der Lage ist?«
Er hörte, wie sie langsam auf ihn zukam. Und als er die Augen wieder öffnete, sah er erleichtert, dass in ihrem Gesicht keinerlei Zorn oder Härte lag.
»Hören Sie, Tom.« Ihre Stimme klang wieder neutral. »Ich habe in den letzten beiden Tagen viele Fachbücher gelesen und
Weitere Kostenlose Bücher