Still und starr ruht der Tod
Katinka nahm die Verfolgung auf. Der starke Strahl ihrer Taschenlampe klebte Susanne an den Fersen. Die Frau stob durch den Schnee, setzte über quer im Weg liegende Baumstämme, wich einem Dornengestrüpp aus. Hardo musste jede Minute hier sein. Bestimmt hatte Petronella Kallweit längst Verstärkung angefordert. Und sie hatten Dante. Alles war gut. Er lebte. Er würde sich erholen. Er musste sich einfach erholen. Alles andere spielte erst einmal nicht die geringste Rolle.
Susanne rannte einen Hang hinunter. Katinka holte auf, stolperte, fing sich. Susanne blieb am Fuß des Hanges unentschlossen stehen. Katinka sah, warum: Vor Susanne lag eine Eisfläche. Ein See!
»Frau Schweigau!«, schrie Katinka aus Leibeskräften. »Geben Sie auf! Sie haben nicht den Hauch einer Chance! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße!«
Doch Susanne lief schon über das Eis. Sie war total auf Flucht getriggert. Eine archaische Kraft trieb sie voran. Katinka gab einen Warnschuss ab. Der Knall hallte durch die Nacht, schickte ein Echo zurück. Es klang, als ritte die Kavallerie über die Hügelkämme. Susanne rannte über das Eis, bis die Finsternis sie verschluckte.
Katinka hielt am Seeufer kurz inne, prüfte mit dem Fuß die Tragkraft des Eises. Es fühlte sich so fest an wie Asphalt. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe geisterte über die gefrorene, von Schnee bedeckte Fläche. Susanne war nicht mehr zu sehen.
»Frau Schweigau?«
Hinter sich hörte sie eine wohlbekannte Stimme, die ihren Namen rief. Hardo war hier!
»Den Hang runter!«, schrie sie zurück. Sie folgte Susannes Fußstapfen. Hoffentlich kümmerte sich die Kallweit derweil um Dante. Verdammt, wie zäh sich Minuten, ja Sekunden in die Länge ziehen konnten. Katinka setzte Fuß vor Fuß, obwohl ein innerer Alarm sie zurückzuhalten versuchte. Susanne würde ohnehin nicht fliehen können. Nicht in der Nacht, zwischen Berg und Tal, bei Schneefall und Frost. Irgendwann würde sie zusammenklappen, erschöpft von der Kälte und der Aussichtslosigkeit. Katinka drehte sich im Kreis, leuchtete mit der Lampe über den See. Keine Susanne.
Nicht aufgeben jetzt! Katinka tappte weiter, orientierte sich an Susannes Fußspuren. Hinter sich vernahm sie knackende Zweige. Hardo. Das Licht ihrer Lampe brach sich an etwas Dunklem. Nicht weit weg. Vielleicht zehn Meter. Katinka hielt inne, ging in die Hocke. Vor ihr tauchte ein weißes Gesicht auf. Wie ein Ballon schien es über der dunklen Stelle zu schweben.
»Frau Schweigau?« Keuchend kam Katinka hoch und rannte, ließ sich auf das Eis fallen und kroch auf das zu, was sie zuerst als schwarzen Fleck wahrgenommen hatte. Jetzt erkannte sie, was es war. Eine quadratische Öffnung im Eis. Und darin steckte Susanne fest. Nur ihr Kopf ragte aus dem Loch.
»Frau Schweigau, ich ziehe Sie raus!«, rief Katinka. Wenn nur Hardo endlich hier wäre, um sie zu sichern! Bäuchlings kroch Katinka näher an das Loch heran. Sie sah, wie Susannes Mund sich lautlos öffnete und schloss. Katinka legte die Pistole hinter sich auf das Eis und streckte beide Arme aus.
Als Susanne danach griff, wurde Katinka klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Susanne Schweigau klammerte sich an Katinkas Hände. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Entschlossen, Katinka mit in den Untergang zu reißen, zerrte sie mit aller Kraft.
»Hardo!«, rief Katinka. »Susanne ist eingebrochen! Ich kann sie alleine nicht rausziehen.«
Das schien auch gar nicht in Susannes Sinn zu sein. Katinka wusste, dass Susanne nicht mehr lange durchhalten würde. Nicht bei diesen Temperaturen. Aber der nahende Tod schien ihre Sinne außer Kraft gesetzt zu haben. Sie kämpfte nicht mehr um ihre eigene Rettung, sondern darum, Katinka mit in den eisigen Abgrund zu reißen.
Katinka spürte das Eis unter ihrem Bauch knacken. Unter den Rissen gluckerte das Wasser. Ein gutes Stück der Eiskante, die das Loch umgab, brach ab. Katinkas Arme sanken ins Wasser. Die Kälte war schlimmer, als sie es je für möglich gehalten hatte.
»Ich breche ein!«, schrie sie. Ihre panische Stimme hallte durch die Nacht.
Entweder wir sterben zusammen, oder … oder … Ich will aber nicht sterben! Nicht jetzt, verdammt, nicht jetzt und schon gar nicht hier! Katinka riss an dem unbarmherzigen Griff, der ihre Handgelenke umklammert hielt. Dabei gab das Eis unter ihr weiter nach. Susanne mussten doch irgendwann die Kräfte verlassen. Wie lange steckte sie jetzt in dem eisigen Wasser fest?
Alles Gefühl wich aus
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