Stille Kuesse sind tief
dreißig Zentimeter voneinander entfernt. Alles an Annabelle führte ihn in Versuchung. Selbst wenn er die Augen schloss, war er noch in der Lage, sie sich in allen Einzelheiten vorzustellen. Noch schlimmer, er würde ihr Lachen hören können – ein Klang, der genauso anziehend war wie alles andere an ihr.
„Eine Katastrophe.“
Annabelle grinste. „Du willst die Frage nicht beantworten, was?“
Er zögerte und sagte dann die Wahrheit. „Sie war dir sehr ähnlich.“
„Mom überlegt, ob sie dir ein Planschbecken bauen lassen soll“, sagte Shane.
Eins von Priscillas Ohren zuckte interessiert.
„Wenigstens du redest mit mir. Das ist immerhin etwas.“
Die Elefantendame drehte ihren großen Kopf zu ihm herum und berührte ihn dabei mit dem Rüssel am Arm, als wollte sie ihn darauf hinweisen, dass es seine eigene Schuld sei.
„Ich weiß“, murmelte er. „Ich bin hier der Bösewicht.“
Er hatte Annabelle tags zuvor nicht verletzen wollen. Als er gesagt hatte, dass sie ihn an Rachel erinnerte, hatte sie die Augen aufgerissen, war ganz blass geworden und hatte sich dann abrupt entschuldigt und war verschwunden.
„Vielleicht hätte ich ihr nachgehen sollen.“
Priscillas Miene verriet eindeutig, dass sie sich fragte: „Glaubst du wirklich?“
„Aber das hätte bedeutet, dass ich sie hätte einfangen müssen.“ Er hätte sie aufhalten, ihr womöglich eine Hand auf die Schulter legen müssen. Und dann? Ihm schwante, dass eine einzige Berührung schon genügt hätte.
Es war noch früh, die Dämmerung war gerade erst angebrochen. Doch da Shane in der Nacht kaum hatte schlafen können, war er bereits wach gewesen, als es Zeit wurde aufzustehen, um sich um die Tiere zu kümmern. Seine Pferde sowie die merkwürdige Menagerie seiner Mutter, zu der alte Lamas, Schafe und Priscilla gehörten, interessierten sich nicht für seinen Gemütszustand. Sie wollten Frühstück.
Die Hintertür wurde zugeschlagen. Shane sah seinen Bruder auf sich zumarschieren und wusste, es hatte sich bereits herumgesprochen.
Rafe blieb am Gatter stehen und schaute ihn böse an. „Was zum Teufel sollte das?“
„Dir auch einen guten Morgen“, brummte Shane.
„Heidi und Annabelle sind Freundinnen.“
„Ich will nichts davon hören.“
„Ist mir egal. Du wirst es dir anhören müssen. Annabelle ist verletzt, Heidi ist sauer, und ich stecke mittendrin. Was hast du zu ihr gesagt?“
„Wir haben über Rachel geredet.“
„Tolles Thema für ein erstes Date.“
„Das war kein Date.“
„Wie du meinst, aber selbst du solltest wissen, dass man sich Frauen gegenüber nicht so idiotisch anstellt. Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten.“
Shane trat aus Priscillas Gehege und erinnerte sich daran, dass er mit seinem Bruder nicht streiten wollte. Obwohl … wieso eigentlich nicht?
„Annabelle hat gefragt, wie Rachel so gewesen wäre, und ich hab gesagt, sie würde mich an Rachel erinnern.“
Ungläubig starrte Rafe ihn an. „Du hast dich über Rachel ausgelassen …?“, begann er.
„Ich hab mich nicht über sie ausgelassen.“
„Das tust du ständig. Wahrscheinlich hast du wieder und wieder darüber gejammert, wie furchtbar Rachel war, und hast Annabelle dann gesagt, sie wäre genau wie deine Ex.“
Shane dachte sehnsuchtsvoll an den Kaffee, den er noch nicht getrunken hatte. „Nicht genau wie sie.“
„Na, für sie muss es sich so angehört haben.“ Rafe fluchte leise. „Ich mag es gar nicht, wenn Heidi sich aufregt.“
„Ich werde mich entschuldigen, okay?“
„Bei Annabelle?“
Shane nickte. Vielleicht wäre es auch gar nicht nötig. Vielleicht würde Annabelle ihm von jetzt an aus dem Weg gehen.
„Sie ist überhaupt nicht wie Rachel“, erklärte Rafe ihm. „Rachel war eine Zicke. Annabelle ist nett.“
„Es ging ja nicht um ihre Persönlichkeit“, widersprach Shane hastig. „Das habe ich gar nicht gemeint. Es ist eher …“
Rafe wartete, aber Shane schüttelte nur den Kopf. Auf keinen Fall würde er seinem Bruder gestehen, dass die sexuelle Anziehungskraft bei Annabelle genausostark war wie damals bei seiner Ex. Der entscheidende Unterschied war allerdings der, dass er es genoss, Zeit mit Annabelle zu verbringen.
„Sie ist gefährlich“, gab er schließlich zu.
„Was? Sie ist Bibliothekarin!“
„Hast du sie dir mal angeschaut?“
„Sicher. Klein und rothaarig. Na und?“
Na und? Sie war die leibhaftige Versuchung. „Von wegen Bibliothekarin. Das ist doch nur eine
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