Stille Sehnsucht
zog, damit er weiter weinen konnte.
Niko hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als Mikael irgendwann eine Hand unter sein Kinn legte und Niko dazu brachte ihn anzusehen. Die hellgrünen Augen seines Bruders waren rot und ziemlich verquollen. Seine eigenen sahen vermutlich genauso schlimm aus.
„Es tut mir so leid, Niko“, flüsterte Mikael heiser und wischte ihm vorsichtig die Tränen von den Wangen. „Ich hätte alles getan, um euch zu helfen. Alles.“
Niko schluckte, aber er wusste nicht, was er zu seiner Verteidigung sagen sollte. Es gab einfach nichts mehr zu sagen. Niko wollte nur, das es aufhörte. Er rückte etwas an Mikael heran, der die wortlose Geste verstand und ihn wieder fest in die Arme nahm. Ihm erlaubte, wegzusehen und sich zu verstecken. Ihm das Gefühl gab, geliebt und beschützt zu werden. Dass er ein Kind mit Fehlern sein durfte. Dass es eben nicht falsch war, schwach zu sein.
„Das hört auf. Jetzt und für immer.“ Mikaels Stimme war ruhig, aber zugleich eisern. „Egal, was wir dafür tun müssen. Neue Telefonnummer, neue Wohnung oder ihn anzeigen. Du wirst keinen Anruf mehr annehmen. Nicht von ihm. Ich kümmere mich darum.“
Das hatte Alex auch immer gesagt, aber es hatte nie funktioniert. Jedenfalls nicht wirklich. „Das klappt nicht. Hat es nie.“
„Hast du vergessen, welcher Familie du angehörst?“, fragte Mikael leise und begann, ihm über den Rücken zu streichen. „Ich lasse nicht zu, dass er dir weiter wehtut. Wenn wir es nicht ohne Hilfe schaffen, besorgen wir uns welche. Ich klage ihn in Grund und Boden. Egal, was es kostet oder was nötig ist, Niko, ich tue alles.“
„Er findet Wege. Immer. Er wird nie damit aufhören“, flüsterte Niko und verkroch sich noch mehr auf Mikaels Schoß, als er spürte, wie sein Bruder sich verspannte.
„Mein Gott. Du hast Angst vor ihm.“
Eine Feststellung, keine Frage. Niko sparte sich jeden Widerspruch und zuckte schweigend mit den Schultern, worauf Mikael unflätig fluchte und ihm gleichzeitig über den Kopf streichelte. Niko war sich nicht sicher, ob sein Bruder mehr ihn oder sich selbst damit beruhigen wollte. Wahrscheinlich beides.
„Ich wünschte, ihr hättet mir davon erzählt.“ Mikael seufzte und Niko bekam ein schlechtes Gewissen.
„Mik, ich...“
„Ich weiß“, unterbrach sein Bruder ihn ernst. „Mir ist klar, dass ich dir und Alex nie die Art Vater sein konnte, die ich gerne gewesen wäre. Aber ich habe mein Bestes versucht. Was ein Tropfen auf den heißen Stein war, das weiß ich jetzt.“
Niko schwieg beschämt und erinnerte sich an Tyler. Daran, was er wegen Mikael gesagt hatte. Sein Bulle sah eindeutig zu viel. „Wir wollten das gar nicht. Rebellieren, meine ich, aber irgendwie...“
„Ihr wolltet keinen neuen Vater“, verstand Mikael ihn sofort und schob eine Hand unter sein Kinn. „Ihr hättet aber einen gebraucht“, sagte Mikael, als sich ihre Blicke trafen. „Oder wenigstens eine Vaterfigur. Jemanden wie Adrian, Tristan und Devin. Alex und du, ihr habt euch immer aufeinander abgestimmt. Wenn ihr nicht wolltet, bin ich nie durch eure Schale gekommen.“
„Es hat ihm wehgetan.“ Alex legte sich neben ihn und starrte an die Zimmerdecke. „Seltsam, dass man so was immer erst begreift, wenn man tot ist, aber ich hoffe, du machst es jetzt besser.“
„Was meinst du?“, fragte Niko leise.
„Mik“, antwortete Alex, als würde das alles erklären, was es nicht tat, und Alex seufzte, als Niko den Kopf zur Seite drehte und ihn fragend ansah. „Es stimmt leider. Wir haben ihn ausgeschlossen, weil wir keinen Bock auf einen zweiten Vater hatten. Aber wir hätten beide einen gebraucht.“
„Wir haben es auch ohne ihn geschafft“, meinte Niko und wunderte sich danach über sich selbst. Wie leicht ihm diese Lüge über die Lippen gekommen war, dabei hatte sein Zusammenbruch im Krankenhaus eindeutig bewiesen, dass sie, dass er, es eben nicht geschafft hatte. War er wirklich so sehr darauf bedacht, seine wahren Gefühle auf keinen Fall vor anderen offenzulegen, dass er schon instinktiv log?
Niko runzelte die Stirn und dachte an Tylers Worte. Sein Bulle hatte gesagt, dass er keine Wahl gehabt hatte und das stimmte. Ihr Vater hätte sie irgendwann völlig unter seinem Ego begraben, wenn Alex und er sich nicht dagegen gewehrt hätten.
Alex' Schnauben riss ihn aus seinen Gedanken. „Und wie? Ich bin tot und du steckst bis zu den Haarspitzen in der Tinte, weil du dich nicht traust,
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