Stille Sehnsucht
Bruder gleichzutun, unsere Familie zu verlassen und mich zu hintergehen. Dafür hat er seine gerechte Strafe erhalten.“
„Wie kannst du es wagen?“, brüllte Niko völlig außer sich und wünschte sich für einen Moment, seinem Vater jetzt direkt gegenüberzustehen. Er hätte ihn geschlagen, und zwar nicht nur ein Mal. „Alex ist tot, Dad. Tot. Und dir ist das vollkommen egal. Du bist meine Verachtung gar nicht wert. Du bist nichts wert. Nichts! Ich wünschte, du wärst an Alex' Stelle gestorben.“
„Mäßige dich, Nikolai! Du bist immer noch ein Corvin und du wirst tun, was ich dir sage! Unsere Familie und meine Firma werden durch dich fortbestehen.“
Das war ja wohl der Gipfel. Nur deswegen wollte sein Vater, dass er zurückkam. Für die Firma. Damit er der Welt einen Erben präsentieren konnte. Es war nie etwas anderes gewesen. Niko zitterte vor Wut so sehr, dass sein nächster Faustschlag nicht die Wand traf, sondern den Spiegel, der den Schlag nicht überstand. Niko erstarrte. Über seine Lippen kam kein Laut, als er durch die Risse im Spiegel Mikael entdeckte, welcher in der offenen Tür stand und ihn entsetzt ansah. Und er war leider nicht der Einzige. Hinter ihm standen Colin, Adrian und Tristan im Gang.
„Nikolai!“
Niko wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf das Handy an seinem Ohr. „Ich komme nicht nach Phily. Du kannst das Flugzeug zurückrufen. Und wo wir schon dabei sind, ruf' mich nie wieder an.“
„Dazu ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“
Sein Vater legte auf, bevor Niko reagieren konnte, was er ohnehin nicht getan hätte. Stattdessen steckte er das Handy schweigend zurück in seine Jacke und stützte sich mit den Händen auf dem Waschbecken ab, um den Kopf hängen zu lassen.
„Wie viel habt ihr gehört?“
„Genug“, antwortete Mikael und Niko hörte eine Tür klappen, bevor ihm Schritte verrieten, dass sein Bruder auf ihn zukam. „Wir sind allein, Niko.“
Als ob es das besser machte. Niko schloss gequält die Augen. „Kannst du es bitte einfach vergessen?“, fragte er, obwohl Niko wusste, dass diese Frage Utopie war. Sein Bruder würde das eben Gehörte niemals unkommentiert stehen lassen und vergessen würde er es auch nicht.
„Nein“, antwortete Mikael wie erwartet und eindeutig wütend. „Wie lange geht das schon so?“
Niko schüttelte nur den Kopf und ging vor Panik fast an die Decke, als Mikael ihm überraschend eine Hand in den Nacken legte.
„Wie lange?“, fragte sein Bruder noch einmal und das Zittern in seiner Stimme ließ Niko zu ihm sehen. Er gab auf, als er Tränen in Mikaels Augen schimmern sah.
„Schon immer. Seit Alex tot ist, lässt er mich gar nicht mehr in Ruhe.“
„Mein Gott“, flüsterte Mikael erschüttert und ließ ihn los, als Niko sich verspannte, weil er Angst hatte, auf sich selbst stinkwütend war und sich gleichzeitig am liebsten übergeben hätte. „Alex hat ihn von dir ferngehalten?“
Niko sah zu Boden und schluckte. Ihm war speiübel. „Alex konnte nein sagen, ich nicht.“
„Warum seid ihr denn nicht zu mir gekommen?“
Diese Frage hatte kommen müssen. Schon seit Jahren wollte jeder wissen, was der Grund dafür war, dass Alex und er ihr Elternhaus in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hatten. Doch bis heute war kein einziges Wort der Erklärung über ihre Lippen gekommen. Außer ihren Eltern wusste niemand, dass von ihnen verlangt worden war, ihrem Vater dabei zu helfen, Mikaels Ruf für immer zu ruinieren, weil ein wahrer Corvin nicht mit Männern schlafen oder eine offizielle Beziehung mit einem Mann führen durfte. Noch dazu einem kleinen Mechaniker, der gesellschaftlich weit unter einem Corvin stand.
Und genau das erzählte Niko seinem Bruder leise und stockend, worauf es in der Herrentoilette still wurde, bis Niko keine Luft mehr bekam und die aufsteigende Galle nicht länger zurückhalten konnte. Er schaffte es gerade so in eine der Toilettenkabinen und übergab sich. Ihm stiegen vor Schmerzen die Tränen in die Augen, so heftig musste er würgen, und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, als er dann Mikaels Hände auf seinem Körper fühlte, die ihn hielten und verhinderten, dass er in der Toilette landete.
Sein Magen schien sich von innen nach außen stülpen zu wollen und er hustete, weinte und würgte gleichzeitig. Als es endlich vorbei war, zog Mikael ihn von der Toilette zum Waschbecken, wo er ihn wie ein kleines Kind wusch und danach auf den Boden und seinen Schoß
Weitere Kostenlose Bücher